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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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gehen sollten. Scotty schwärmte von den griechischen Tempeln. Es seien die besterhaltenen, selbst in Griechenland finde man keine besseren. Aber sie konnte keinen von uns überzeugen, das Schiff zu verlassen. Ton und Technik murmelten etwas von »mithilfe moderner Betonarchitektur rekonstruierten Trümmern«. Scotty protestierte, nannte sie Kulturbanausen.
    Mario fuhr ein Stück weiter, bis das Städtchen Agropoli gut zu sehen war. Links ragten die Berge in die Höhe. Hier begann die Cilento-Halbinsel, die auf der Karte kaum als solche zu erkennen ist. Die Sabina ankerte vor der Küste. Es dämmerte. Mit bloßem Auge konnte ich aber noch Menschen am Strand unterscheiden. Auf der Karte entdeckte ich, dass wir etwa gegenüber der Mündung des Flusses Solofrone lagen. Rechts vor uns hatten wir das historische Zentrum Agropolis auf einem kleinen Felsen, der ins Meer ragte. Links von uns beobachtete ich die viel befahrene Küstenstraße. Als ein Wagen dort oberhalb einer kleinen Sand- oder Kieselbucht parkte und jemand ausstieg, bildete ich mir ein, Martin zu erkennen.
    Aus der Kabine holte ich mir ein Fernglas, setzte mich an die Reling. Der Mann und das Auto waren verschwunden. Das Glas reichte auch nicht aus, um einen Menschen eindeutig zu identifizieren. Ich richtete es auf das Gebirge, versuchte, die Formen der Berge auf meiner Landkarte zu finden. Die letzten Sonnenstrahlen mit den tiefen Schatten ließen es nicht zu. Für einen Moment sah ich William Godin an meiner Stelle. Ich setzte das Glas ab, rieb mir das Gesicht, vielleicht nahm ich seine Züge an, wurde ihm mit zunehmendem Alter immer ähnlicher. Irgendwann musste sich die direkte Verwandtschaft bemerkbar machen. Ich dachte an seine Leiche. Sein Kopf hatte wie eine Insel aus dem Bett geragt. Wie ein Berg, den ich in seiner Modellkiste hatte bauen müssen. Ob ich mit diesem Unternehmen ihm selbst im Tod beweisen wollte, besser zu sein als er? Die Erde mithilfe ihrer Formen entschlüsseln. Diesmal von der Schattenseite her.
    Wodurch unterschied sich mein Hobby davon, die Welt in einer Struktur aus Buchstaben zu erfassen? Ich hatte ein spezielles Alphabet der Erde festgehalten. Aber es war auch der Versuch, der Auseinandersetzung mit komplexeren Strukturen aus dem Weg zu gehen. Die Welt sollte einfach und übersichtlich sein, sich in wiederholenden Formen erschließen. In einem Alphabet. Buchstaben, Laute nur, keine Wörter mit mehrfacher Bedeutung.
    Scotty setzte sich neben mich.
    »Ist es nicht wunderbar?«, sagte sie und sah nach Agropoli hinüber. Sie atmete tief. »Auf dem Rückweg sollten wir uns die Zeit nehmen und Amalfi und Positano besuchen.«
    »Ach, was ist Schönheit? Landschaften sind schön, wenn man den richtigen Ausschnitt betrachtet. Gemälde, Fotos, Filme sind uns Vorbilder für die Schönheit von Landschaft. Erinnere dich an die Abbildungen in deinen Kinderbüchern. Landschaftsideale. Wenn wir dann in der Natur Ähnlichkeiten entdecken, fühlen wir uns wohl, finden es schön. Schönheit beruht auf dem Prinzip der Wiederholung, des Wiedererkennens.«
    Diese Methode hatte bei mir mit den Schriftzeichen funktioniert. Die Welt gefiel mir, ich fühlte mich in ihr aufgehoben, geborgen, wenn ich in ihr die Form eines Buchstabens entdeckte.
    Sie stieß die Luft aus. »Kannst du nicht ein bisschen romantisch sein?«
    »Romantisch? Diese Form von überschwänglichem Gefühlsausbruch anlässlich einer Banalität?«
    »Du hättest William Godin nicht umbringen können. Er muss das eigentlich gewusst haben. Es fehlt dir an Gefühl und Leidenschaft.«
    »Gefühl und Leidenschaft, was sind das? Könnten es nicht auch nur Vereinbarungen sein, gelernt wie das Einmaleins? Ist die Entstehung eines Gefühls nicht wie Mathematik? Filmregisseure jedenfalls können es berechnen. Als ich anfing, mich für das Kino zu interessieren, habe ich gelernt, dass sich Zuschauer eines Films wie dressierte Affen verhalten. Sie lachen und weinen an den vorausberechneten Stellen. Und in den gleichen Filmen wird dir beigebracht, dass Gefühl und Leidenschaft schlechte Ratgeber sind, wenn man jemanden töten will. Gefühl und Leidenschaft verleiten den Mörder, Fehler zu machen. Er landet immer hinter Gittern.«
    Scotty schüttelte den Kopf.
    Ich ließ mich nicht aufhalten. »Die Gefühle sind es doch, die alles durcheinanderbringen. Alles ist klar, übersichtlich, berechenbar. Und dann kommt ein Gefühl dazwischen, und alles gerät aus der Form. Gefühle negieren jede Ordnung.

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