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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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finden. Wachse ging langsamer als auf dem Hinweg. Wir ließen sie das Tempo bestimmen.
    »Was ist mit der Schlange?«, fragte ich.
    »War die echt oder nur Vision?«, fragte Ton. »Das Ergebnis einer langen Wanderung in der prallen Sonne?«
    »Sie deutet auf etwas«, sagte Wachse.
    »Ein Orakel?«
    »Ich habe keine Ahnung.«
    Es war später Nachmittag, als wir den Parkplatz erreichten. Von den beiden Alten war nichts mehr zu sehen. Ton setzte sich wieder ans Steuer.
    Im Hotel angekommen, beschlossen wir, am nächsten Tag abzureisen.
    Wachse sagte: »Ich komme nicht mit.«
    »Was heißt das?«
    »Ich bleibe hier.«
    »Was hast du vor?«
    »Ich muss da wieder hoch.«

15
    »Was ist los?«
    Ich öffnete die Zimmertür. Wachse stand im Flur.
    »Ihr müsst mir helfen.« Ihr Ausdruck wechselte von Erschrecken zu Freude und zurück.
    »Weißt du, wie spät es ist? Es ist mitten in der Nacht.«
    Sie zwängte sich an mir vorbei ins dunkle Zimmer.
    »Mach schon Licht!«, befahl sie.
    Ich tappte zum Lichtschalter. Wir blinzelten in die grelle Deckenlampe. Scotty verkroch sich unter dem Betttuch. Wachse hatte ein Buch, einen Bleistift und ein Maßband mitgebracht.
    »Wachse, bitte gib uns eine Erklärung.«
    Sie schwieg, zog ihre Schuhe aus, stellte sich mit dem Rücken gegen den Türrahmen und legte sich das Buch auf den Kopf.
    »Wenn es gerade liegt, mach einen Bleistiftstrich am unteren Rand.«
    »Wachse, bitte. Was soll das?«
    »Ich kann das nicht allein. Ich brauche eure Hilfe. Nun mach schon. Ihr könnt gleich weiterschlafen.«
    Wir hatten uns als Kinder genauso gemessen und dabei immer gemogelt, das Buch schräg gelegt und den anderen kleiner gemacht.
    Ich tat ihr den Gefallen. Wachse maß vom Boden bis zum Strich, ließ mich nachmessen. Dann klappte sie das Buch auf, nahm ihren Personalausweis heraus.
    »Da, lies!«
    Laut ihrem Ausweis war sie drei Zentimeter kleiner. Scotty stand nun ebenfalls auf. Wachse musste sich noch einmal von ihr messen lassen. Das Ergebnis änderte sich nicht.
    »Und deshalb bleibe ich hier«, sagte Wachse. »Es geschah da oben.«
    »Aber die Ursache kann alles Mögliche sein. Falsche Daten im Ausweis. Wolltest du dich nicht immer schon größer machen?«
    Wachse schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen.
    »Okay, es kann durch die Reise kommen, die Aufregung, anderes Essen, die Anstrengungen auf dem Berg, das Beruhigungsmittel von gestern«, gab Scotty zu bedenken.
    »Nein, es ist da oben geschehen. Ich weiß es genau. Ich habe es schon dort gespürt. Die Felsnische. Als ich drinnen hockte, wusste ich, da geht etwas vor, etwas geschieht mit mir. Der Fels, die Mulde darin ist es. Sie lässt mich wachsen. Das ist der Schatz. Versteht ihr nicht? Begreift ihr es nicht? Verdammt noch mal! Das ist der Schatz!«
    Wir schwiegen, zogen die Stirn in Falten.
    »Guckt mich nicht so an. Ich bin nicht verrückt«, sagte sie. »Ich muss da wieder hoch. Wenn ich es nicht tue, dann ist es vielleicht eine verpasste Chance. Und das kann ich mir in meinem Leben nicht leisten, versteht ihr?«
    Ich dachte an die Form des Schattens, eine lang gestreckte Menschengestalt mit einem erhobenen Arm.
    »Wachse, ich bitte dich. Außerdem, wir können dich nicht allein zurücklassen. Wie willst du zurechtkommen? Du kannst die Sprache nicht. Du hast hier kein spezielles Auto wie zu Hause.«
    Wachse verließ uns wortlos.
    »Was sagt dein Gefühl?«, fragte Scotty.
    »Mein Gefühl sagt mir, sie kann nicht schlafen.«
    »Genau.«
    Wir öffneten die Balkontür und traten hinaus. Unten auf der nächtlich verwaisten Promenade wanderte Wachse auf und ab. Wir sahen ihr von oben zu.
    »Es wird eine fürchterliche Enttäuschung für sie«, sagte Scotty.
    »Und wenn es stimmt?«
    »Ich verbiete dir, so etwas zu denken.«
    »Und was soll ich stattdessen tun?«
    »Komm ins Bett.«

16
    Wachse hatte dunkle Ränder um die Augen. Sie wollte sofort auf den Berg gebracht werden, aber zuvor sollten wir mit ihr noch eine Wohnung suchen.
    Es fand sich ein Makler im Ort, und er konnte eine ganze Liste von Ferienwohnungen überall in der Stadt aufweisen, die bis Anfang August noch frei waren.
    »Dann ist Schluss, dann kommen die Neapler«, sagte er. Mehr verstand ich nicht.
    »Was sagt er?«, fragte ich Scotty.
    »Er hasst die Neapler.«
    »Er macht sein Geschäft mit ihnen.«
    »Das genau ist seine Art, sie zu hassen.«
    Die dritte Wohnung, die wir besichtigten, nahmen wir. Sie lag fast zu ebener Erde, war also mühelos zu erreichen und bot

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