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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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überholten ihn nicht. Sie trieben ihn mit kurzen Rufen an, wie man Tiere antreibt. Der Schweiß brannte mir in den Augen. Ich blieb dicht hinter Wachse. Die Landschaft schwamm vor mir her, und manchmal verschwand Wachse in den Schlieren meines Blicks. Ich stieß sie fast um, als sie stehen blieb. Ich wischte mir die Augen, sie brannten wie verätzt. Gewaltsam riss ich die Lider auseinander. Wachse öffnete den Mund weit, hob den Kopf, als nähme sie eine Witterung auf, dann bog sie von unserer Richtung rechtwinklig ab und wandte sich dem Tal zu. Sie sprang über die Steine, als hätte sie der bisherige Weg nicht die geringste Kraft gekostet.
    Ich rief sie, aber sie blieb nicht stehen.
    Scotty kam heran, hielt mir den Ausschnitt eines der neuen Fotos hin. Sie hatte ihn mit dem Schwarz-Weiß-Drucker am Hotelempfang ausgedruckt. Die Rasterung war grob.
    »Ich schätze, wir sind fast da«, sagte sie.
    Frank kam heran und riss ihr das Bild aus der Hand.
    »Was wird hier verheimlicht?«, schrie er. »Ist das ein Plan?«
    Das Foto war zerrissen. Er hob die Fetzen auf und ließ sie fallen. Ton und Technik sammelten das Papier wieder ein.
    Die beiden Alten kamen heran, schubsten Martin vor sich her. Eine Krücke verhakte sich im Fels. Er fiel, fing sich mit den Händen ab, kam wieder hoch, setzte sich, indem er seine Beinprothese mit den Händen heranzog.
    »Ich bin ein Krüppel. Sie vergreifen sich an einem Krüppel!«, jammerte er. Er hielt uns seine blutigen Handflächen entgegen. Die beiden Alten blickten auf ihn herab, ohne jede Regung im Gesicht.
    »Sie sollen uns alle umbringen! Keiner von euch wird am Leben gelassen!«, schrie er. »Merkt ihr denn nicht, was hier vorgeht?« Sein Hals färbte sich, als wäre er gewürgt worden.
    »Beruhige dich.« Ich hielt ihm meine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Er schwang seine Krücken und versuchte, mich damit zu schlagen. Ich stieg Wachse nach. Es ging abwärts. Sie betrat einen kleinen, niedrigen Wald und verschwand. Am Hang wurde der Bewuchs dichter. Zwischen den Bäumen wucherte Dornengestrüpp. Es versperrte mir den Weg. Eine braune Schlange huschte an meinen Füßen vorbei. Eine Viper. Ich fand die Stelle nicht, an der Wachse den Wald betreten hatte. Ich rief sie, bekam keine Antwort. Schließlich bog ich die Zweige zur Seite, nahm die Arme als Schutz vor mein Gesicht und zwängte mich gewaltsam hindurch. Dornen stachen durch die Kleidung, Zweige peitschten meine Beine. Das Blut lief mir an den Armen herunter. Für einen Moment hing ich fest, konnte weder vor noch zurück. Doch plötzlich teilten sich die Büsche. Eine kleine Lichtung, ein quer zum Hang liegender Platz. Geröll, aus dem an der rechten Seite drei Felsen bis zu halber Baumhöhe aus dem Boden ragten.
    Wachse saß an einen Stamm gelehnt, die Arme hingen leblos herab. Auch sie hatte zahlreiche kleine Wunden.
    »Hier muss es sein«, flüsterte sie. Sie war vollkommen erschöpft und schloss die Augen. »Hier ist es.«
    Einer nach dem anderen trat aus dem Wald. Blutend und wankend schleppten sie sich auf die Lichtung, suchten am Rand einen Schattenplatz und untersuchten ihre zerschundenen Körper.
    Ich saugte an meinen Wunden und zog mir mit den Zähnen zwei Dornen aus den Armen. Ich tupfte das Blut mit einem Taschentuch ab. Zum ersten Mal seit langer Zeit fiel mir wieder ein Buchstabe auf. Ein Blutrinnsal bildete ein S auf dem Unterarm. Aber meine Welt aus Alphabeten war untergegangen. Jetzt sammelte ich etwas Neues: Gefühle. Ich sah zu Scotty hinüber, langte nach ihrer Hand.
    »Wir haben es geschafft«, sagte ich. »Wir sind angekommen.«
    »Du bist angekommen«, sagte sie.

14
    Als Wachse sich hochstemmte, schwankend über den Platz ging, war das ein Zeichen für alle.
    Martin begann, mit dem Krückstock Steine umzudrehen. Frank grub mit einem Holzstück an einer erdigen Stelle. Ton und Technik bauten einen Metalldetektor zusammen.
    Wachse ging zu den Felsen, stemmte sich rückwärts an einer Höhlung hoch. Eine Mulde, wie vom Wasser ausgewaschen, gerade groß genug, dass darin ein Mensch hocken konnte. Sie zog sich hinein, umschlang die Beine mit den Armen und sah uns zu. Ton lief mit dem Metallsuchgerät auf und ab. Technik spulte ein Kabel ab und legte es in zwei Schleifen über die Lichtung. Er schloss es an einen Oszillator an.
    »Ihr seid gut vorbereitet«, sagte ich.
    »Nur ein Versuch. Ich lasse einen großen Stein fallen oder klopfe auf die Felsen und hoffe, der reflektierende Schall gibt Aufschluss

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