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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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kein Interesse an kleinen Jungen, die Buchstaben, vielleicht sogar das ganze Alphabet beherrschten. Mein kleiner Bruder übernahm meine Rolle. Ich war befreit von dem Kasten.
    Der Großvater bewohnte ein Holzhaus am Hang eines Berges. Es stand weit entfernt vom nächsten Dorf. Man hörte keinen Straßenlärm, sah keinen Menschen. Die Hütte war nicht besonders komfortabel. Drei Räume und eine große Wohnküche. In einem Zimmer befand sich Großvaters Arbeitsraum mit Zeichentisch, Regalen, Landkarten und großen Büchern. Eine Ecke hatte er als Fotolabor abgetrennt. Nachts entwickelte er Filme und Bilder noch auf klassische Weise mit faulig riechenden Flüssigkeiten. Die Papierbilder hingen zum Trocken an Wäscheleinen in der Küche. Die Hütte besaß einen einzigen Ofen, der so gebaut war, dass er alle Räume heizte. Fließendes Wasser gab es nur draußen. Die Toilette war ein kleines separates Häuschen.
    Mein Großvater hauste allein. Meine Großmutter lebte am Stadtrand, auch in einem Holzhaus. Steinwände fanden beide unmöglich.
    »In Stein wird man zu Stein«, sagte meine Großmutter. Nach ihrer Theorie verschloss man sich hinter Steinmauern vor der kosmischen Strahlung. Und die war gesund. Auch Türen mussten immer offen stehen. Das Unglück der Zivilisation seien Türen, behauptete sie. Sie schloss auch nachts die Haustür nie ab. Mit möglichen Einbrechern würde sie schon fertig. Es kam nie einer. Siehst du, sagte sie, offene Türen verhindern das Böse. Vielleicht hatte sie recht.
    Drei Stunden dauerte die Fahrt zu Großvater. Unterwegs heulte und bettelte ich. Es nützte nichts. Mein Vater sprach schon damals kaum mit mir. Später, als das Unglück mit meinem Bruder geschehen war, sprach er erst recht kein Wort mehr mit mir.
    Die letzte große Stadt auf unserer Fahrt war Göttingen, dann kamen nur noch kleine Dörfer, deren Namen ich nicht mehr weiß. Am Ende bogen wir in einen Waldweg ein. Mein Vater fuhr jedes Mal fluchend durch die ausgefahrenen Furchen und tiefen Pfützen. Er hämmerte mit den Fäusten auf die Hupe, wodurch mein Großvater zum Tor kommen sollte. Meine Mutter hob mich am Kragen aus dem Auto. Ich zog die Beine an. So übergab sie mich zappelnd. Ihre Handtasche mit dem Revolver schlug mir gegen die Beine.
    Großvater nahm mich in Empfang, drehte mir den Arm um, damit ich nicht weglief.
    »Du kommst spät«, brummte er.
    Ich war ein Geschäft, eine Abmachung zwischen ihm und meinen Eltern. Alle lebten von seinem Geld. Er hatte mehrere Erfindungen gemacht. So etwas Ähnliches wie den Reißverschluss oder Druckknöpfe erfunden. Ich weiß es nicht genau. Vielleicht stammte das Geld auch schon von seinem Vater. Ich habe mich nie dafür interessiert. Aber die Patente zahlten sich wohl noch heute aus. Ein Anwalt verteilte das Geld unter den Angehörigen nach den Vorgaben meines Großvaters. Ich wollte mich nicht nachträglich für seine Gewalttätigkeiten bezahlen lassen. Mit dem Ende meines Studiums nahm ich keinen Cent mehr an.
    Das Grundstück meines Großvaters war von einem hohen Gitterzaun umgeben. Mein Vater wendete den Wagen; er stieg nie aus, winkte nur wortlos, wenn Großvater heraufkam. Meine Mutter trug mich bis an den Zaun.
    Großvater stieß mich durch das Tor und schloss ab.
    »Ich will nicht hierbleiben!«, schrie ich.
    »Alles geschieht zu deinem Besten«, damit verabschiedete mich meine Mutter. Jedes Mal.

13
    Mir blieben zwei Möglichkeiten. Der Weg nach rechts zu meinem ursprünglichen Ziel, einer Detektei. So weit hatte mich Scotty gebracht.
    Oder ich konnte nach links gehen, zurück zu dem Antiquitätengeschäft, überprüfen, ob es wirklich der Kasten aus meiner Kindheit war.
    Unentschlossen streckte ich den Kopf aus der Nische des Hauseingangs. Der Mann mit der Gießkanne räusperte sich hinter mir. Ich wartete auf eine plötzliche Bewegung, ein ungewohntes Geräusch von der Straße, als Befehl, zu gehen. Eine Frau setzte ihre prallen Einkaufstüten am Rand ab. Jetzt nahm sie ihre Last wieder auf, zog den geballten Schatten ihres Körpers auf dem Fußweg hinter sich her. Ein zweites unförmiges Leben, schwer wie ihre Einkäufe. Plötzlich das Türenschlagen eines geparkten Autos. Ein dumpfes Bellen zwischen Tür und Rahmen. Der Befehl.
    Spring, mach es wie dein Onkel Frederik! Vielleicht waren seine Sprünge durchs Feuer, die ständige Lebensgefahr, auch nur Versuche, etwas zu lernen, was sein Vater ihm genommen hatte. Zu sein wie andere Menschen, zu fühlen wie

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