Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
Vom Netzwerk:
keine Angst vor mir haben. Mein Name ist Gordon Paulson. Soll ich Ihnen meine Visitenkarte geben?«, sagte der Wolf.
    Ihr Kopf machte eine Bewegung zwischen Nicken und Schütteln. Ein Teil der schwarzen Haare klebte auf ihrem schwarzen T-Shirt, glänzte wie ein geprägtes Muster. Reste einer Beschriftung.
    »Vorhin, am Schaufenster, da ...« Sie kam langsam hinter dem Sekretär vor, legte ihre Hände wieder an die Kante der Schreibplatte, diesmal aber so, dass ihre Finger sich darunter versteckten. Sie vollendete den Satz nicht, hob den Kopf, der Mund blieb offen wie bei einem Fisch.
    Sie tastete sich wie eine Blinde an der Möbelkante entlang. Die Farbe der Haut um ihren Mund wurde grün.
    »Ihre Visitenkarte?«
    Ich zog meine Karte hervor, legte sie auf einen der Schreibtische und trat wieder einen Schritt zurück.
    »Wie sah ich aus? Ich meine, vorhin am Fenster?«
    »Ich kann es nicht beschreiben. Als hätten Sie kein normales Gesicht, ich meine, ohne Augen, keinen Mund. So etwas in der Art.«
    Sie kam näher, ignorierte die Visitenkarte und betrachtete mein Gesicht, als wollte sie es sich für eine spätere Beschreibung bei der Polizei einprägen.
    »Es tut mir leid, ich wollte Ihnen keine Angst einjagen.«
    »Was ist mit meinen Fingern?«
    »Sie sind erstaunlich lang.«
    »Hässlich?«
    »Nein. Spinnenbeine. Vielleicht gefährlich.«
    Sie lächelte, das Grün auf ihrer Haut verschwand. »Meine Nägel sind scharf geschliffen, wie Rasierklingen.« Sie zeigte eine Reihe Zähne auf einer Schnur.
    »Ich glaube Ihnen gern.«
    »Soll ich es Ihnen beweisen.«
    »Wollen Sie mich rasieren?«
    Ihr Körper hob sich unter ihrem schwarzen T-Shirt, das zwei rote Streifen in Taillenhöhe hatte. Sie war mager und hatte viele Muskeln. Am Oberschenkel spannten sie sich unter der engen schwarzen Hose. Es hätte die Kleidung einer Sportlerin sein können. Vielleicht trainierte sie täglich und hatte ihren Busen bereits in Muskeln verwandelt.
    »Wenn Sie nicht um Ihre Kehle fürchten.« Sie unterdrückte ein Lächeln und verschränkte die Arme. Sie war kräftig, musste vor einem Mann wie mir keine Angst haben. Ich wagte einen Schritt in Richtung Fenster. »Der Kasten dort, was ist das?«
    Sie hob die Schultern. »Sehen Sie mich an. Was bin ich? Jeder Mensch sieht, was er sehen will, was er gelernt hat zu sehen. Ich halte es für falsch, die Welt in jung oder alt, schön und hässlich, in schlecht und gut, in weiblich und männlich, in Vergangenheit und Gegenwart, in nützlich und sinnlos zu unterteilen. Es ist immer alles zugleich. Aber da jeder Mensch, in der Regel, immer die Hälfte weglässt, wenn er etwas betrachtet – angeblich, um es besser zu erkennen –, sieht er niemals das Ganze. Er erkennt also nichts.«
    Sie gefiel mir in ihrem missionarischen Eifer. »Wie orientieren Sie sich dann?«
    »Gar nicht. Das machen die Menschen um mich herum. Sie betrachten die Dinge hier, bezeichnen sie, geben ihnen Namen. Alles halb. Sie bilden mich ab in ihrem Gehirn. Heraus kommt eine Gestalt, die ich nur zur Hälfte bin. Sie nehmen es für das Ganze.«
    »Kann ich das Ganze sehen?«
    »Von mir?«
    »Ja.«
    »Wollen Sie das wirklich?«
    »Sicher.«
    Ich erwartete, dass sie ihre Kleidung fallen ließ, nackt vor mir eine Karatestellung einnahm. Sie begann zu lächeln. »Sie wollen mich wirklich kennenlernen?«
    Ich nickte. »Ist das so ungewöhnlich?«
    »Sie machen mir Angst.«
    »Ich bin harmlos.«
    »Das sagen alle.«
    »Meine Erziehung lief darauf hinaus, mich nur zur Hälfte entstehen zu lassen. Vielleicht sogar weniger.«
    »Dann sind wir verwandt.«
    Ich wagte einen weiteren Schritt zum Schaufenster und streckte eine Hand nach dem Kasten. Berühren wollte ich ihn noch nicht. »Wozu braucht man so etwas?«
    »Sie wissen doch genau, was das ist«, sagte sie. Die Stimme kam wieder von tief unten. »Es hat Ihnen doch einen Schrecken eingejagt, als sie draußen vor dem Fenster standen und es entdeckten.«
    »Ich weiß nicht, was es ist. Ich weiß, wozu es einmal benutzt wurde. Ich würde gern wissen, woher es kommt. Die andere Hälfte. Verstehen Sie?«
    Mit den Fingerspitzen berührte ich das Holz. Ich zuckte zusammen, duckte mich. Nach so vielen Jahren spürte ich wieder die Hand im Nacken.

16
    »Los, ein Gebirge! Mach ein Gebirge!« Ich wurde geschüttelt.
    Meine Kindheit war die Hand des Großvaters im Nacken. Ich wurde geschüttelt wie die Kaninchen. Er brach ihnen das Genick, wenn er sie lebend von den Bauern gekauft hatte. Seine

Weitere Kostenlose Bücher