Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
waren die Schießübungen auf das Zeitungspapier gemacht worden.
Ich lief vor das Haus, suchte die Katze. Denn schon einmal hatte meine Mutter einen Hamster erschossen, den ich auf einem Jahrmarkt gewonnen hatte. Er bestand nur noch aus blutigen Fellfetzen. Die Katze, ein großes schwarz-weißes Tier, das immer wieder für Tage verschwand, gehörte nicht unbedingt uns. Sie lebte frei, besuchte jeden in der Nachbarschaft. Sie saß auf einem der Pfosten, die unsere Auffahrt begrenzten. Es war also doch in Frankfurt, und wir hatten das Haus am Stadtrand schon bezogen.
Ich lief wieder in den Garten, wartete neben dem Tisch und sah meiner Mutter und der Nachbarin zu. Sie schoben sich Kekse in die Münder, die wie Wunden wirkten. Die Krümel klammerten sich wie kleine Maden an den blutigen Lippen fest.
»Was willst du?«, fragte meine Mutter.
»Was habt ihr dahinten begraben?«
»Das Bein deines Bruders. Sie haben es uns aus der Klinik geschickt. Es ist nicht mehr zu gebrauchen.«
Die Nachbarin hob die Augenklappe und zwinkerte mir mit stark geschminkten Augenlidern und einem Glasauge zu. Ich lief zum Zaun und entdeckte die leere Hundehütte. Sie gehörte einem alten weißen Hund, der sich kaum noch erhob, wenn ich ihn rief.
10
Ich flüchtete aus den Hitzefantasien der Straßen in ein neues großes Café mit roten Kunstlederbänken in Form des Buchstaben B. Von den glänzenden Sitzen hatte ich Kühlung erwartet, doch der Kunststoff saugte sich an mir fest, gab mich kaum wieder frei.
Eine rothaarige Kellnerin in einem dunklen glänzenden Kleid mit weißem Kragen stand mit dem Rücken zu mir am Tresen. Und je länger ich ihren Rücken anstarrte, umso mehr hatte ich das Gefühl, es wäre Scotty. Sie war also Kellnerin und schämte sich deshalb vor mir, weil ich sie entdeckt hatte.
Das Polster saugte an mir, und ohne Kraft, mich zu befreien, schrumpfte ich auf der roten Bank zusammen. Der Schweiß lief mir zischend von der Stirn in die Augen und nahm mir den klaren Blick.
Eine alte Frau aus dem Wachsfigurenkabinett saß ein paar Tische entfernt. Sie lächelte mich an, und erst jetzt entdeckte ich, dass sie eine Augenklappe trug. Sie nickte mir zu, und dann machte sie die Kellnerin auf mich aufmerksam. Endlich schlurfte die Bedienung zu mir, beugte sich herab. Es war Scotty. Es war nicht Scotty.
»Sie wünschen?«
»Kennen Sie jemanden, der so aussieht wie Sie?« Vergeblich versuchte ich mich aufzurichten. Das Kunstleder hielt mich fest.
»Zum Glück nicht.«
»Sie heißt Scotty oder Scotland.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was darf es sein?«
»Herbst oder Winter wäre mir jetzt lieber.«
Ich nahm dann doch einen Cappuccino und fragte nach Augentropfen. Es gab keine.
Ich ergab mich dem klebrigen Polster, sah hinaus auf die Straße, und plötzlich kam mir eine Idee, die keinen Film als Vorbild hatte. Oder doch? Scotty war vielleicht meine Schwester. Wer weiß, was alles in der Zeit, in der ich meine Familie nicht mehr gesehen hatte, geschehen war, welche Familiengeheimnisse entlarvt worden waren. Mein Vater und mein Großvater hatten sich keine großen Fesseln durch ihre Ehe angelegt. Manchmal kam mir der Verdacht, mein Großvater habe auch mit meiner Mutter ein Verhältnis gehabt. Wer weiß, wie viele Halbschwestern ich besaß?
Ich sah eine Bande missgestalteter, hasenschartiger Kinder vor mir. Meine Kinder mit Scotty.
Ich trank den Cappuccino nicht, sondern nur das damit servierte Wasser. Keine weiteren Schweißausbrüche bitte. Die Augen brannten genug. Mit zwei Papierservietten rieb ich mir den Nacken, wischte mir übers Gesicht. Dann rief ich die Bedienung. Ich zahlte und fragte: »Vorausgesetzt, wir beide sind nicht miteinander verwandt, könnten Sie sich vorstellen, mit mir eine Beziehung einzugehen?«
Sie sah mich eine Sekunde lang an, dann straffte sie sich, drückte ihren Busen durch den glänzenden schwarzen Stoff ihres Kleides und schob ihren Unterleib vor. Sie lächelte, dann schüttelte sie den Kopf.
»Könnten Sie sich vorstellen, dass überhaupt eine Frau mit mir eine Beziehung eingeht?«
Sie prüfte mich erneut eine Sekunde lang, dann schüttelte sie wieder den Kopf. »Nein.«
»Und warum nicht?«
»Sie haben diesen typischen Geruch.«
»Welchen?«
»Säuerlich.«
»Und das bedeutet?«
»Sie sind gerade verlassen worden.«
»Das riecht man? Das wusste ich nicht. Mein Geruchssinn ist nicht ausgeprägt. Gut, ich werde nach Hause gehen, duschen und wiederkommen.«
Sie lachte. »Das
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