Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Stirn.
»Ist Ihnen nicht gut?«
»Alles geschieht zu meinem Besten«, hörte ich mich antworten. Ein von meiner Mutter geliehener Satz. Ich verlor den Verstand. »Brauchen Sie einen Arzt?«, fragte die Stimme.
Ich drehte mich halb weg, wollte in den Augen anderer kein Verrückter sein. In der geöffneten Tür des Hauses stand ein Mann in einem grauen Arbeitskittel, mit einem Besen und einer Gießkanne in der Hand. Er stellte ein Wort dar. Der Besen ein T, der Körper bildete durch den langen Kittel ein A und die Gießkanne ein G. Er wusste nichts von seinem stummen Gruß. Ich lächelte. Die Entdeckung, dass Gießkannen ein G bilden können, war neu und besänftigend.
»Danke«, sagte ich. »Ich brauche keinen Arzt. Es geht mir schon wieder gut.«
Demnächst würde ich für meine Buchstabensammlung eine Gießkanne fotografieren.
Der Mann stellte den Besen ab und deutete auf das Schild eines Internisten. »Haben wir alles im Haus. Ich meine den Arzt. Er hat jetzt sogar Sprechstunde.«
Er forschte in meinem Gesicht.
»Ist nur die Hitze«, sagte ich. »Vielen Dank.«
Wie sollte ich den Satz meiner Mutter erklären? Es ist alles zu deinem Besten.
»Wenn wir an eine höhere Macht glauben, muss alles zu unserem Besten geschehen. Finden Sie nicht?«
Der Mann kam breit heran, als hinge ein geschwollenes Geschlecht zwischen seinen Beinen. Er legte den Kopf etwas schräg, bohrte mit dem Finger im Ohr. Vielleicht ein Zeichen, dass er mich nicht verstanden hatte. Er nahm den Finger heraus, betrachtete die gelbe Kuppe.
»Wollen Sie damit sagen, ich sollte nicht ...« Er hob die tropfende Kanne in seiner linken Hand. »Sie verstehen, ich wollte das Wasser gegen den Staub ausgießen.«
Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. »Aber ich warte gern, bis Sie weg sind«, sagte der Mann. »Ich möchte nicht Ihre religiösen Gefühle verletzen.«
»Danke, das ist nett von Ihnen«, sagte ich. Welcher Religionsgemeinschaft gehörte ich an? Einer Sekte mit einer rothaarigen Frau als Heilige.
»Gießen Sie ruhig«, sagte ich, »aber bedenken Sie, durch das kalte Wasser werden die heißen Steine zerspringen. Der Boden könnte aufreißen, und das ganze Haus in das darunterliegende schwarze Loch stürzen.«
Der Mann runzelte die Stirn. »Haben Sie spezielle Informationen darüber?«
»Nein, nur die allgemein zugänglichen.« Ich hob die Hand zum Abschied. »Schönen Tag noch.«
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Mit dem Bild des Kastens aus meiner Kindheit war etwas in mir erwacht, floss durch meinen Körper, tropfte wie Teer von den Organen und machte mich reglos.
12
»Bleib auf deinem Zimmer.«
Meine Mutter wusste, dass mein Großvater mich quälte. Deshalb befürchtete sie, ich würde fliehen. Erst am Tag der Abfahrt teilte sie es mir mit und schloss mich im Kinderzimmer ein. Für solche Fälle hatte ich eine Stelle hinter meinem Bett. Die Tapete dort war locker, und ich riss sie in kleinen Stücken von der Wand und bohrte mit dem Bleistift Löcher in den Putz.
Zwischen meinem dritten und siebten Lebensjahr wohnte ich bei meinem Großvater. Zu Beginn des Winters brachte er mich allerdings jedes Mal nach Hause. Richtig zu Hause war ich weder bei ihm noch bei meinen Eltern. Sie wohnten damals noch in einer Mietwohnung mitten in der Stadt. Kaum war der Winter vorbei, fuhren mich meine Eltern zurück zu Großvater.
»Und wehe, du kletterst aus dem Fenster«, rief meine Mutter durch die Tür. Sie bezog sich auf einen einzigen Versuch, vom ersten Stock über die Vorsprünge der Fassade nach unten zu gelangen. Ich war mit der Hose am Fensterrahmen hängen geblieben. Ich hing dort, bis mich ein Nachbar sah.
Meine Mutter stand noch eine Weile im Flur und lauschte. Erst wenn die Fußbodenbretter unter ihr knarrten, kroch ich zu meiner Lochecke und machte mich an die Arbeit. Darüber hing das Poster einer Comicfigur, das mir nichts bedeutete; es diente nur der Tarnung. Mein Bruder, der mit mir das Zimmer teilte, wusste von den Löchern, verriet mich aber nie. Einmal ertappte ich ihn dabei, wie er meine Löcher tiefer bohrte.
Es gab keinen Ausweg. Im März musste ich zu dem Mann, der mein Großvater war. Im Dezember ging es den gleichen Weg zurück. Er setzte durch, dass ich ein Jahr später in die Schule kam, damit ich länger bei ihm blieb. Doch vom ersten Schultag an war ich gerettet. Zwar musste ich in den Ferien noch zu ihm, aber lesen und schreiben zu können schützte mich vor seinen Experimenten. William Godin hatte
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