Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
sie.
Schon bei den ersten Schritten stach eine Nadel in meine Knie. Mein Magen wölbte sich zu einem halben Gummiball. Aber ich marschierte auf einer geraden Linie. Vor dem Antiquitätengeschäft angekommen, drehte ich mich um neunzig Grad. Ich hob die Hand zur besseren Sicht an die Stirn. Trotzdem erlaubte die Sonne keinen Blick in die Tiefe des Ladens. Auf dem Schaufenster klebten Sand und Staubflüsse vom letzten Regen. Ich drückte mein Gesicht an das Glas. Da stand er, der Holzkasten, halb im Schatten. Das weiße Holz blau schimmernd. Es gab keinen Zweifel mehr, es war derselbe Kasten. Vier handbreite Leisten, Intarsien, Messingeinfassung, ein Bodenbrett und darüber eine elektrische Beleuchtungskonstruktion, Klappen, die das Licht kanalisieren. Mein Großvater füllte ihn mit nassem Sand. Ich musste davor knien und aus dem Sand ein Miniaturgebirge formen. Eine wiederkehrende Strafe, deren Ursache ich nicht kannte.
Ich roch Großvater, eine Statue aus Holz, die Eukalyptus ausatmete. Wenn er sprach, hatte er einen Spucketropfen auf der Lippe. Seinen Namen schleuderte er den Menschen wie einen Hammer entgegen: William Godin. Wenn ihn jemand französisch aussprach, verbesserte er ihn sofort. Dabei kamen seine Vorfahren aus Frankreich. Aber er liebte das Deutsche, war nach dem Krieg sofort aus dem Elsass nach Frankfurt gegangen. Ein Riese in den immer gleichen braunen Cordhosen und gelbem Filzjackett mit Lederknöpfen. Fäuste wie grob geschnitzte Keulen. Wenn ich nur einmal die Chance gehabt hätte, ihn zu erschießen – ich hätte es getan.
Meiner Familie war ich nicht entkommen. Fast fünfzehn Jahre keine Besuche, keine Anrufe, keine Briefe. Die Schecks des Anwalts meines Großvaters hatte ich mit dem Vermerk »Empfänger verstorben« zurückgeschickt. Keiner sollte mich finden können.
»Ich gehöre nicht dazu«, sagte ich leise. Es nützte nichts. Es nützte nichts, dass ich den Geburtsnamen der Mutter trug. Mein Rücken wurde heiß. Unter meinen Armen tropfte Schweiß. Hinter mir hatten sich alle Verwandten versammelt. Los, mach, pack schon deine Geburtstagsgeschenke aus! Immer gab es eine Überraschung unter den Modellautos, Pullovern und Malstiften. Oft ein leerer Karton, manchmal mit Hundekot, einem überfahrenen Frosch oder einer zerquetschten Kakerlake darin. Einmal war es eine tote Katze gewesen. Ich ahnte die Bösartigkeit, begleitet von Kichern und Lachen. Ich löste die rosafarbene Schleife, klappte den Karton mit dem grünen Metallglanz auf. Halb verwest hatte das Tier darin gelegen. Keiner gab sich als Absender zu erkennen. Ich schaufelte ein Loch im Garten am Rand eines Blumenbeetes und kippte den Inhalt des Kartons hinein. Am nächsten Morgen lag die tote Katze wieder vor meinem Bett. Der pralle Bauch hatte ein Loch im schwarzen Fell. Heraus krochen kurze dicke Maden. Nur mein Bruder Martin konnte das gewesen sein. Ich trug die Katze zwei Straßen weiter, achtete darauf, dass mir niemand folgte. Nur so würde der Scherz meines Bruders ein Ende finden. In einem Hinterhof warf ich das stinkende Tier in einen Mülleimer und übergab mich. Der Rückweg war ein einziges Würgen.
In dem Laden bewegte sich etwas. Ich wischte über das Glas. Aber in der dunklen Höhle leuchtete nur eine einzige Glühlampe an einem Kronleuchter. Durch den Staub und die Schlieren des Schaufensters war es nicht möglich, jemanden in dem Geschäft zu erkennen. Ich betrachtete meine schmutzigen Handrücken. Zwei blanke Spuren auf dem Fenster wie Engelsflügel. Ich drückte auf die Klinke der Eingangstür. Sie war verschlossen. Ich rüttelte daran.
Ganz unten am Rand klebte hinter dem Glas ein Pappschild mit den Öffnungszeiten. Ich ging in die Knie. Das Schild war aus einem Wursttablett hergestellt worden, wie man es an Imbissen bekam. Es hätte jemand da sein müssen.
Ich versuchte mir die Telefonnummer einzuprägen, indem ich sie mir laut vorlas. Doch gleich schon, mit geschlossenen Augen und noch in derselben Stellung, konnte ich sie nicht wiederholen. Ich holte mein Mobiltelefon aus der Tasche und tippte die Nummer in den Speicher ein.
Ich hatte es immer geahnt – auf Dauer würde ich meiner Familie nicht entkommen, meine Erinnerungen nicht weiter verdrängen können. Sich tot stellen nützte nichts, aber vielleicht waren die anderen schon tot. Ich ging weiter, langsam, weil meine Schuhe im Begriff waren, sich aufzulösen, wieder die Form jener fettigen Schweinehaut anzunehmen, die das Leder einmal gewesen war.
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