Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
unbekannte gymnastische Übung, ein Trainingsprogramm.
»Gut, freitags«, bestätigte ich. »Was werden wir tun?«
Sie ging zum Fenster. Das Gegenlicht verbarg einen Teil ihrer Mimik.
»Wir üben«, sagte sie, als hätte sie meine Gedanken erraten.
»Aber was?«
»Neue Menschen zu sein. Dafür gibt es noch keine Regeln.«
Ich stand jetzt ebenfalls auf. »Bessere Menschen?«
»Kann sein«, sagte sie. »Aber jetzt muss ich etwas über Ihren Bruder erfahren.«
»Wie weit kennen Sie ihn?«
»Er bietet mir ab und zu Antiquitäten an, die ich in Kommission nehme. Das letzte Mal bot er sich selber an. Ich sollte seine Geliebte werden. Immer freitags.«
23
»Kellen botig«, sagte mein Bruder. Er hatte einen Hammer in der Hand.
Er war etwa vier Jahre alt und erfand oft eigene Bezeichnungen und Worte, die auf nichts und alles passten. Mein Großvater war davon begeistert. Möglicherweise wurde Martin nach einem ähnlichen Programm erzogen wie ich.
»Martin ist besser als du«, sagte er manchmal zu mir. Zur Belohnung hatte er meinem Bruder einen Werkzeugkasten geschenkt. Die Werkzeuge waren für Erwachsene. Richtige Zangen, Sägen und schwere Hämmer.
»Kellen botig«, wiederholte Martin und schwang den Hammer in meine Richtung.
»Halt's Maul und sprich normal«, sagte ich und kümmerte mich nicht weiter um ihn.
Doch plötzlich begriff ich, was »Kellen botig« bedeuten könnte. Ich lief in unser gemeinsames Zimmer. Wir wohnten noch in der Mietwohnung. Martin hatte meinen blauen Lieblingsteddy an meinen Bettpfosten genagelt. Große Zimmermannsnägel durch Bauch, Kopf, Arme und Beine getrieben. Ich wollte ihn sofort befreien, hatte stechende Schmerzen in den gleichen Körperteilen. Ich bekam das Plüschtier nicht los, die Nägel waren zu tief ins Holz getrieben. Schließlich riss ich den Teddy ab und zerstörte ihn dadurch vollends.
Heute denke ich, dass die Idee für diese Kreuzigung von meinem Großvater gekommen war. Martin hatte auf Anweisung gearbeitet. Und er hatte es nicht allein ausführen können. Meine Mutter muss ihm geholfen haben. Eine ihrer Bestrafungen bestand sowieso darin, meine Spielzeuge zu zerstören.
Erst als ich zur Schule kam, zogen wir in ein Haus am Stadtrand, und mein Bruder und ich bekamen getrennte, abschließbare Zimmer.
Martin konnte meine Spielzeuge nicht mehr stehlen. Wir wurden auch nicht mehr zusammen eingesperrt – eine weitere häufige Strafe meiner Mutter. Selbst wenn wir nichts Verbotenes getan hatten, wurden wir oft eingeschlossen, weil sie uns loswerden und nicht auf uns aufpassen wollte.
In dem neuen Haus hatten wir durch einen eigenen Garten mehr Freiheit. Die Umgebung erschien meiner Mutter auch sicherer, sodass sie uns bei Ruhebedürfnis hinausjagte. Obwohl mein Großvater befohlen hatte, ich solle immer im Haus bleiben.
Die eigene Sprache meines Bruders machte ihn zu einem Unterhaltungsobjekt. An manchen Abenden saßen meine Eltern und Großeltern in der Küche und unterhielten sich in der Sprache meines Bruders. Das heißt, jeder erfand für irgendein Ding oder einen Sachverhalt ein neues Wort. Selbst als mein Bruder diese Sprache längst aufgegeben hatte, als wir schon Jugendliche waren, fanden mein Großvater und meine Mutter an manchen Abenden wieder zu diesem Spiel zurück. Dabei überboten sie sich darin, den Worten Anklang an obszöne Begriffe zu geben. Jedenfalls kommt es mir in der Erinnerung so vor. Vielleicht waren es obszöne Worte.
Ich lief mit dem zerrissenen blauen Teddy in die Küche. Meine Mutter nahm ihn mir ab, untersuchte seine herausquellenden Innereien, hielt ihn ans Ohr und sagte: »Jetzt, wo er tot ist, sollte er uns noch zu etwas nütze sein. Wir werden ihn essen.« Sie legte ihn in die Bratpfanne. In meiner Erinnerung gab sie Öl und Gewürze dazu. Und als mein Vater nach Hause kam, setzten sie sich mit meinem Bruder an den Tisch und aßen den kleinen blauen Teddy auf. Vielleicht war es wirklich so. Ich verkroch mich in mein Bett.
In der Nacht stand ich auf, öffnete den Werkzeugkasten meines Bruders und schlich mich mit Hammer und Nägeln bewaffnet an sein Bett. Alles, was er mir angetan hatte, wollte ich ihm antun. Alles, was er mir genommen hatte, wollte ich ihm nehmen. Eine einfache Gleichung. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, nicht mehr Spielzeug gegen Spielzeug aufzuwiegen.
In dieser Nacht versuchte ich, seine Hand am Bett festzunageln, ihn zu kreuzigen.
24
»Mein Bruder wollte wirklich ... freitags ...«
Eva Young wandte
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