Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Regenwürmern. Sie wandte sich wieder einem der Bilder zu. »Sie haben gestern doch offensichtlich mit mir geflirtet oder ...«
»Sie auch.«
»... und Sie versuchen es schon wieder.«
»Warten Ihre Brüder unten, um mich zu verprügeln?«
»Mein Anzug ist wie beim Fechten mit Sensoren ausgestattet. Jeder Ihrer Blicke darauf wird registriert und direkt zu meinen Brüdern übertragen.«
»Wie viele Punkte habe ich schon?«
»Mehr als jeder andere vor Ihnen.«
»Ich bin also geliefert.«
Sie presste die Lippen zusammen, wiegte den Kopf.
»Was lässt Sie zweifeln?«
»Ich bin nicht das, was Sie möglicherweise in mir sehen. Betrachten Sie mein Gesicht. Es wirkt wie eingedrückt. Und weibliche Körperformen kann ich nur mit Mühe herausstellen. Es ist einerseits eine typisch asiatische Figur. Vor allem flach. Sie entspricht nicht dem abendländischen Frauenideal.«
»Und andererseits?«
»Das kommt später.«
»Sie sind jung, das ist schon die halbe Schönheit. Die andere Hälfte entsteht in den Augen des Betrachters. Und ich muss Ihnen gestehen, dass meine Art, zu sehen, eine andere ist als die aller anderen Menschen.«
»Was sehen Sie?«
»Vor allem Buchstaben.«
»Ich bin nicht mehr jung; ich wirke nur so. In Wirklichkeit bin ich schon vierunddreißig. Auch eine Folge meiner Herkunft.«
»Wie kommt es, dass ich mir plötzlich wie ein Perverser vorkomme?«
»Weil Sie einer sind?«
»Um das festzustellen, sind Sie herkommen.«
»Haben Sie homosexuelle Beziehungen?«
»Nun ja, eher nicht.«
»Haben Sie eine Freundin?«
»Nun ja, eher nicht. Im Augenblick jedenfalls.«
Ich wollte nicht von Scotty erzählen. Auch von der Bauchtänzerin wollte ich nicht sprechen. Ich schilderte die Beziehung zu einer geschiedenen Lehrerin. Lange her. Damals kam sie jeden Mittwoch, wir gingen essen und ins Bett. Manchmal, am Wochenende, nahm sie mich mit zu einer Ausstellung oder ins Theater. Natürlich gingen wir häufig ins Kino. Aber wenn wir uns danach den Film erzählten, war es, als hätten wir zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten gesehen. Im Grunde, denke ich, war ich eine Art Alibi für sie. Sie konnte ihren Freundinnen erzählen, sie hätte einen Mann. Aber sie brauchte keinen. Jedenfalls keinen wie mich. Und mir ging es ähnlich: Ich brauchte keine Frau.
»Pervers«, kommentierte Eva Young. »Dann wäre der Freitag oder der Montag auf jeden Fall noch frei.«
»Ja, aber wieso gerade diese Tage?«
»Es ist ein Angebot.«
»Werden Ihre Brüder nicht darauf bestehen, dass ich Sie heirate?«
»Ein gewisses Risiko müssen Sie tragen.«
»Und was ist der Preis?«
»Am Ende zahlen Sie mit Enttäuschung, Minderwertigkeitgefühlen und Depressionen, mehr noch, es kann sein, dass diese Beziehung Ihre emotionale Leidensfähigkeit übersteigt.«
»Also wie im Kino.« Ich war aufgestanden und ans Fenster gegangen. »Emotionale Leidensfähigkeit war bisher nicht meine Stärke.« Das Stück Himmel, das die gegenüberliegenden Häuser freigaben, bildete ein breit gezogenes M. Ich bemerkte es zum ersten Mal. »Ich bin eher mathematisch orientiert, wenn man das sagen kann. Die Gleichung muss stimmen.«
»Immerhin nehmen Sie mich als Menschen wahr und nicht als Monster«, sagte sie.
Wusste sie, dass ich in diesem Moment überall den Buchstaben M sah und hörte?
»Das klingt nach Enttäuschungen.«
»Nach Täuschung.«
»Sie meinen das nicht ernst – mit freitags und montags?« Ich drehte mich um. Sie saß auf dem Stuhl, hatte die Hände zwischen den Knien gefaltet. In diesem Moment sah sie aus wie ein M. Dann stieß sie sich vom Stuhl ab, kam mit gesenktem Kopf auf mich zu. Ich konnte nicht erkennen, was sie empfand. Sie blieb vor mir stehen, rührte sich nicht.
»Und Sie sind auch keine Aushilfe in dem Antiquitätengeschäft. Es gehört Ihnen, nicht wahr?«
»Ja. Mein Bruder hat es für mich eingerichtet. Ich fange damit Männer ein.«
»Waren es schon viele?«
»Sie sind der zweite. Vor drei Jahren schon einer. Aber Sie wissen sicher, wie lange eine Spinne im Netz ohne Nahrung ausharren kann.«
Sie hob ihren Kopf und sah mich an. Ihre Augen besaßen in diesem Moment schmale gelbliche Pupillen.
»Ist heute Freitag?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Dann nehme ich den Freitag. Ab nächster Woche.«
Diesen Dialog kannte ich noch nicht aus dem Kino. Ich hatte nicht einmal eine Assoziation zu einem Film. Hier tat sich eine vollkommen andersartige Beziehung auf, sie erschien mir wie eine neue Sprache, eine
Weitere Kostenlose Bücher