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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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Es war endlich so weit. Einmal musste Schluss sein. Manchmal sind sechs Jahre Leben für einen Menschen schon zu viel.
    »Er kann lesen und schreiben. Ich will ihn nicht mehr.« Mein Großvater nickte mir zu. »Mach es!«
    Ich brauchte lange für den Rückweg, musste mich zwischendurch erschöpft an eine Wand lehnen, auf eine Treppenstufe setzen. Als ich endlich in mein Zimmer kam, standen dort meine Eltern, hatten Geschenke aufgebaut, eine Kerze angezündet und sangen für mich ein Geburtstagslied. Mein Bruder Martin stand zwischen ihnen und brüllte das Lied mit. Als er das Messer sah, klammerte er sich an die Beine meines Vaters.
    Meine Eltern gratulierten mir, lachten. Sie glaubten, ich hätte, schon in Vorahnung, dass es Pakete zu öffnen gäbe, das Messer mitgebracht.
    An zwei Geschenke erinnere ich mich genau: einen Atlas, den ich heute noch besitze. Er versammelt die höchsten und interessantesten Gebirge und heißt Die Sprache der Erde. Der kleine ferngesteuerte Sportwagen war schon mittags kaputt. Mein Bruder hatte auf die Steuerelektronik gepinkelt. Ich hatte ihn draußen ausprobieren wollen, war aber zu schwach gewesen. Martin hatte mir den Wagen weggenommen. Ich schaffte es nicht, hinter ihm herzulaufen.
    Ich ging wieder ins Bett. Da blieb ich den ganzen Tag. Ich schwöre, ich habe mich nicht aus dem Bett wegbewegt. Mich trifft also keine Schuld.
    Mein Vater arbeitete damals als Reporter und Fotograf bei einer Zeitschrift. Zwischen seinen Aufträgen kam er oft nach Hause, so auch an diesem Nachmittag. In die Auffahrt zum Haus hatten sich Reifenspuren tief eingegraben. Den Sand darin nutzten wir zum Spielen. Mein Bruder saß dort mit meinem neuen Modellwagen. Ich schleuderte vom Fenster aus meinen neuen Zauberstab in seine Richtung, aber er bemerkte es nicht. Als mein Vater nach seiner Pause wieder startete, übersah er meinen Bruder und überfuhr ihn.
    Ich hab das alles nur vom Fenster aus gesehen. Ich war krank, viel zu schwach. Ich konnte nichts tun, nur den Zauberstab nach ihm schleudern. Später kam heraus, dass mein Bruder mich über Tage hinweg vergiftet hatte. Er wollte mich umbringen. Mit einem Pflanzenschutzmittel aus dem Garten.
    Mein Vater zog Martin unter dem Wagen hervor. Mein Bruder wirkte wie tot, war aber nur bewusstlos. Das Blut lief ihm aus der Hose.
    In meiner Erinnerung fehlt diesen Szenen der Ton. Es war wie ein Stummfilm. Personen mit ausholenden Gesten, weiß geschminkten Gesichtern und schwarz bemalten Augen flatterten durchs Bild. Und in meiner Erinnerung sitzt mein Großvater im Zentrum aller Bewegungen starr am Steuer des Wagens.
    Meine Mutter kam aus dem Haus, mit ihren Armen machte sie Flugbewegungen. Mein Vater hob Martin hoch. Er lief mit ihm hin und her, legte ihn dann auf der Kühlerhaube ab.
    Ich weiß nicht mehr, wie ich nach unten gekommen bin, auf jeden Fall stieg ich aus dem Auto und suchte meinen Zauberstab. Ich befürchtete, er wäre kaputtgegangen. Der Anzug meines Vaters wuchs oder sein Körper schrumpfte auf eine Weise, dass er fast nicht mehr aus dem Stoff herausschaute. Er sank an der Seite des Autos auf die Knie und stieß mehrmals mit der Stirn gegen den Kotflügel. Die Hand meines Großvaters kam heraus und legte sich auf seinen Kopf.
    Der leblose Körper meines Bruders schmiegte sich wie frischer Teig an das Blech des Autos. Meine Mutter öffnete den Mund, aber es kam kein Schrei. Sie flog ins Haus, kam mit einer Schere zurück. Als wäre sie ein Vogelschnabel, schnitt sie damit das blutige Hosenbein meines Bruders auf. Aus seinem Penis lief der Urin über sein blutendes Knie.
    Im Krankenhaus stellten die Ärzte ein völlig zertrümmertes Kniegelenk fest. Selbst wenn die Knochen wieder zusammenwüchsen, würde Martin ein steifes Bein behalten. Ein paar Tage darauf entzündete sich seine Verletzung. Schließlich musste ihm das linke Bein am Oberschenkel amputiert werden.
    Ich bin vollkommen schuldlos.
    Ich war krank und schwach.
    Vergiftet.

ZWEITER TEIL
DIE WIEDERKEHR DER WUT
    1
    »Für Gordon Paulson« stand auf dem Umschlag, den Großvater für mich aus einer ganzen Reihe von Kuverts zupfte. Jeweils am Ersten eines Monats kam er und verteilte innerhalb der Familie Geld. Er streckte mir den Umschlag entgegen, aber ich nahm ihn nicht, wandte mich ab und sah zum Fenster hinaus. Mein Großvater legte ihn auf den Küchentisch und brummte – es klang weder ärgerlich noch zufrieden. Dann bekam mein Bruder sein Geld. Ich war etwa elf oder zwölf, als ich

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