Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
sich ab, betrachtete die Buchstaben einer alten holländischen Frakturschrift, die ich vergrößert und gerahmt an die Wand gehängt hatte.
Das Profil der Antiquitätenhändlerin erinnerte mich an ein Gemälde mit einem Doppelgesicht. Übereinandergelegt. Von vorn und von der Seite gleichzeitig. War Evas Gesicht schön, war es hässlich? Ich kenne mich da nicht richtig aus.
»Ich habe meinen Bruder seit Jahren nicht gesehen.«
Eva ging die Bilder entlang. »Das ist Ihre Arbeit?«
»Ja, ich entwerfe Buchstaben, Schriften.«
In der Küche sprang mein Kühlschrank an. Er ist alt und zwitschert manchmal wie ein Vogel.
»Was ist das? Halten Sie Vögel gefangen?«
»Nein, nein. Ich wohne hier auch.« Ich wies auf die offene Tür zu den anderen Räumen und ging in die Küche, um dem Kühlschrank einen Tritt zu geben. Er war sofort ruhig.
Als ich zurückkam, stand sie vor dem Bild mit den chinesischen Schriftzeichen.
»Es soll das Zeichen für Glück sein«, sagte ich. »Man sieht es ihm nicht an.«
»Man hat Sie betrogen, es ist ein Schimpfwort.« Sie lächelte mit ihren Regenwurmlippen.
»Alles ist das, was der Betrachter darin sieht, darin sehen will, das waren Ihre Worte neulich im Laden.«
Ich wusste nicht, was ich von ihrem Angebot halten sollte. Sie hatte das Schema meiner Lehrerin einfach aufgegriffen, sich als Freitagsgeliebte angeboten. So begannen keine Beziehungen. Mit mir vielleicht schon. Aber sie wollte wohl nur meinem Bruder entgehen. Freitags nicht da sein. Ich war nur Mittel zum Zweck.
»Ihr Bruder, ist an ihm etwas Besonderes?« Eva drehte sich zu mir. Ich wusste schon, was sie bestätigt haben wollte.
»Ja, er hat wirklich nur ein Bein.«
»Es ist also wahr.«
»Hat er es vorgeführt? Sein linkes Bein ist künstlich, nicht aus Holz, es ist aus Kunststoff. Er bewegt sich damit so geschickt, dass man es nicht unbedingt bemerkt.«
»Wenn Ihr Bruder kommt, möchte ich, dass Sie im Laden sind.«
»Ich würde ihm nicht gern begegnen.«
Sie ging zu einem der Schreibtische und setzte sich wieder. Sie stützte die Arme auf die Schreibtischplatte und legte ihren Kopf in die Schalen ihrer Hände.
»Er fragte mich bei seinem letzten Besuch, ob ich schon einmal mit einem Mann geschlafen hätte, der nur ein Bein hat. Das sei eine hocherotische Spezialität.«
»Es gab eine Zeit, da ging er überall mit seiner Behinderung hausieren. In Zeitschriften, im Internet bot er sich als Sexualpartner an. Dabei war er verheiratet und hatte eine Tochter.«
»Ich möchte ihm wirklich nicht noch einmal allein gegenüberstehen.«
»Gut, ich komme. Aber ich bleibe im Hinterzimmer.«
»Danke.« Sie stand auf, ging zur Tür. Die Formen ihres Busen und Hinterns hatten sich verloren. »Übrigens, mein Vater ist halber Japaner, und meine Mutter kommt aus Indonesien. Ich bin hier geboren.«
Sie kam zurück, hatte die Arme eng an den Körper gepresst. Sie ging, als wäre sie aus Holz.
»Und die Brüder?«
»Gibt es nicht.« Sie blieb vor mir stehen und legte die Hände vor ihren Körper, als hätte ich sie nackt überrascht.
»Und chinesische Schrift?« Ich deutete auf das Zeichen an der Wand.
»Kann ich nicht lesen.«
»Und der Freitagabend?«
»Ja, natürlich. Es bleibt dabei. Ab nächste Woche. Ich schlage vor, wir gehen ins Kino.«
Ich ging einen halben Schritt auf sie zu, und sie sagte: »Bitte nicht.«
Ich ließ sie gehen, beobachtete die Straße vom Fenster aus. Ein Taxi löste sich von einem Parkplatz. Es schlich zu ihr und hielt. Der Fahrer hatte offensichtlich auf sie gewartet.
25
Ich erwachte, weil es mir ins Gesicht regnete. Ich war neun Jahre alt, und dies war mein Geburtstag. Mein Bruder stand über mir in meinem Bett und pinkelte mich an. Er sprang davon, und ich schleppte mich ins Bad, hockte mich unter die Dusche, weil ich nicht stehen konnte. Mir war schwindelig. Danach übergab ich mich, wie in letzter Zeit fast jeden Morgen.
Seit Tagen fühlte ich mich schwach, konnte mich oft kaum auf den Beinen halten, war nicht zur Schule gegangen. Ich schlief fast den ganzen Tag und trank nur Wasser oder eine Brühe, die mir meine Mutter ans Bett stellte.
Jetzt nahm ich all meine Kräfte zusammen, wankte in die Küche. In meiner Erinnerung saß da auch mein Großvater schweigend am Tisch.
Ich öffnete die Schublade mit den großen Messern. Ich wählte das Brotmesser. Es war das schärfste, und die Brust meines Bruders würde ihm keinen Widerstand entgegensetzen.
»Gut so«, sagte mein Großvater.
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