Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman
Du solltest tot sein, nicht sie«, sagte er. »Du gehörst nicht zur Familie.«
Er hüpfte bis zur Katze, ließ sich vor ihr nieder und tupfte seine Handflächen in das Blut.
»Mach sie wieder lebendig! Los, mach sie wieder lebendig!«, schrie er.
4
Die Schaufensterscheibe des Antiquitätengeschäfts war immer noch nicht geputzt. Sie wirkte im Sonnenlicht wie aus grauer Pappe. Eva saß vor dem Laden auf einem gedrechselten Stuhl aus dem 19. Jahrhundert. Dunkelroter Samtbezug mit goldener Bordüre. Empirestil, nahm ich an. An der Lehne hatte sie einen kleinen Sonnenschirm befestigt, wie er sonst an Kinderwagen zu sehen ist. Er war blau mit Fröschen darauf. Sie wirkte wie die Königin einer Südseeinsel.
Auf ihren Knien lag umgedreht ein aufgeschlagener Weltatlas. Ich nahm ihn hoch, er zeigte den Mittelmeerraum.
»Ich suche einen weißen Fleck«, sagte sie.
»Der Herausgeber einer Landkarte wird niemals zugeben, dass es auf seiner Karte ein unerforschtes Gebiet gibt. Jeder Kunde würde versuchen, eine andere Karte zu kaufen, die diesen unbedruckten Fleck nicht hat.«
Sie stand auf, montierte den Schirm vom Stuhl. »Ich dachte mir schon, dass die weißen Flecke heutzutage braun oder grün sind.« »Und was wollen Sie mit dem weißen Fleck?«
»Hinfahren. Es muss der sicherste Platz auf der Welt sein. Dort kann man sein, wie man will, weil man niemandem begegnen wird. Und man wird dort nicht gefunden. Es ist ein sicheres Versteck.«
»Die letzten weißen Flecke sind die Menschen.«
»Und bei denen wiederum speziell das Gehirn«, ergänzte sie. »Wissenschaftlich gesehen«, sagte ich. »Manchmal ist auch das Herz vollkommen unbewohnt.«
Sie hob die Brauen. »Das kann man ändern.«
Sie lächelte, befahl mir, den Stuhl hinter ihr herzutragen, und ging in den Laden.
Ich brachte den Stuhl in das Lager. Sie schloss die Ladentür ab. »Falls er zu früh kommt«, sagte sie.
Ich löschte alle Lampen im Hinterzimmer, probierte aus, wo ich stehen könnte und wie weit die Tür geöffnet sein müsste, um alles zu sehen.
»Sieht man mich?«
»Ja. Sie müssen weiter zurückgehen. Genügt es Ihnen nicht, wenn Sie alles hören können?«
»Sie halten mich sowieso für blind?«
»Ein bisschen.«
Ich stapelte Stühle übereinander, baute eine Barriere daraus. Ich stellte Eva zur Probe dahinter, bis ich sicher war, dass ich meinen Bruder sehen würde, aber er mich nicht.
Eva zischte: »Er kommt. Schnell weg!«
Martin fuhr mit einem amerikanischen Kombi vor und parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er stieg aus, langte nach seinen Krücken. Das linke Hosenbein seines grauen Anzugs flatterte leer an ihm herab. Er wollte schon die Straße überqueren, als er sich noch einmal umdrehte, die Krücken gegen den Wagen lehnte. Er öffnete die Tür erneut, beugte sich weit hinein und holte seine Beinprothese vom Beifahrersitz. Er klemmte sie sich unter einen Arm und nahm seine Stöcke wieder auf.
Ich huschte nach hinten. Eva drehte den Schlüssel in der Ladentür.
»Es tut mir leid wegen dieses Aufzugs«, sagte Martin. »Bei dieser Hitze schnall ich ab und zu ab, um Kühlung zu bekommen.«
Martin hatte sich nicht verändert, seit ich ihn das letzte Mal vor etwa sieben Jahren gesehen hatte. Seit er erwachsen war, wirkte er immer etwas älter als ich, es lag an seinem grauen Gesicht. Er mochte die Sonne nicht. Er hatte zu viel Haut, sie schlug Falten, in denen der Staub nistete. Es lag an seinem mageren Körper. Er aß nur rohes Gemüse.
»Habe ich Sie erschreckt?«, fragte Martin. »Wussten Sie nicht, dass ich nur ein Bein habe?«
»Doch, Sie hatten es mir gesagt.«
Martin legte sein künstliches Bein auf einen Schreibtisch und rieb sich durch den Stoff des Hosenbeins seinen Beinstumpf.
»Vor einem Krüppel muss niemand Angst haben. Selbst ein Mensch wie Sie nicht.«
Er öffnete am Unterschenkel des künstlichen Beines ein Batteriefach und drückte einen Schalter. Das Bein besaß eine Elektronik. Wahrscheinlich half sie beim Gehen.
»Möchten Sie nicht ab und zu anatomische Untersuchungen vornehmen? Reflexe testen? Stellen Sie sich einen Mann vor, der sich nicht wehren kann. Wäre das nicht reizvoll für Sie?«
»Ich würde unsere Beziehung gern im geschäftlichen Bereich belassen«, sagte Eva.
»Wissen Sie, dass Beinstümpfe die unterschiedlichsten Formen haben? Je nach Lust und Geschick des Chirurgen entstehen hochinteressante erotische Gebilde. Wunderbare Spielzeuge für einen Menschen wie
Weitere Kostenlose Bücher