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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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da.
    Wir fuhren durch die Stadt, die wenigen Lichter waren elektrische Blitze, schmerzten in unseren Augen. Auf der Landstraße drohten uns die Bäume mit schwarzen geballten Fäusten an hochgereckten Stämmen. Die weißen Mittelstreifen zuckten in der Seitenscheibe und gaben meinen Herzschlag vor. Trotzdem schlief ich ein. Ich erwachte, weil das Auto auf den tiefen Spuren eines Waldwegs hin und her sprang. Zuerst dachte ich, wir wären zu meinem Großvater gefahren, aber dann sah ich, dass die Landschaft flach war. Wir hielten an und mussten aussteigen. Der Wald war vollkommen still. Zwar bewegten sich die Zweige, doch es war kein Rauschen des Windes zu hören. Die Zweige schwenkten vor und zurück, als wären sie Arme lebendiger Wesen.
    Unser Fragen, wo es denn hinginge, beantwortete meine Mutter nicht. Sie schob und stieß uns vorwärts den schmaler werdenden Weg entlang. Jedes Mal, wenn ich heute in einem Schwarz-Weiß-Film einen Wald sehe, denke ich an diese Szene zurück, als unsere Mutter uns erschießen wollte.
    Sie führte uns zu einer kleinen Lichtung. Wir setzten uns unter einen großen Baum. Hier habe man ihre toten Eltern gefunden, sagte sie. Beide waren erschossen worden. Wir kannten die Geschichte schon. Sie öffnete ihre Handtasche und holte die Pistole heraus, die sie immer bei sich trug.
    Sie sagte, sie hätte es selbst gesehen und sie würde uns jetzt zeigen, wie die beiden hier gelegen hätten. Ich sollte ihren Vater und mein Bruder sollte die Mutter darstellen. Mein Bruder begann zu weinen. Meine Mutter tröstete ihn, kniete vor ihm, umarmte ihn. Sie sagte, es ginge ihr nur um den Augenblick der Gerechtigkeit, um Strafe und Opferbereitschaft für die Wahrheit, und die Wahrheit wollten wir doch sicher auch erfahren.
    Wahrscheinlich hätte auch Martin alles getan, was sie verlangte, wenn nicht in diesem Moment auf der anderen Seite der Lichtung ein Mann aufgetaucht wäre. Er leuchtete mit einer Taschenlampe über das hohe dunkle Gras hinweg und rief unsere Namen. Meine Mutter hob die Pistole, schoss vier oder fünf Mal auf ihn, dann scheuchte sie uns hoch. Wir rannten zum Wagen und fuhren mit aufheulendem Motor zurück.
    Wir erreichten das Haus gleichzeitig mit unserem Vater. Er stieg aus und leuchtet mit seiner Taschenlampe in den Wagen meiner Mutter. Dann riss er die Fahrertür auf und zischte: »Du wolltest es tun!«
    Es gab etwas zwischen meinem Vater und meiner Mutter, von dem ich nichts wusste, das sich aber oft zeigte. Manchmal, wenn sie mitten im Gespräch abbrachen, oder in den Blicken, die sie sich plötzlich zuwarfen. Es schien mir, als ob sie einen Vorgang unterbrachen, der etwas offenbart hätte, was niemand wissen sollte.
    Meine Mutter stieg aus dem Wagen, und er schlug sie mit der Hand. Ich wollte sie nicht ansehen. Ich hielt die Luft an, legte die Arme dicht an den Körper und versuchte, mich wie eine Holzfigur zu fühlen. Das gelang mir immer gut. Dann hob ich den Kopf, betrachtete den Nachthimmel. Die Luft roch nach bitteren Mandeln, nach Gift. Das Haus erschien mir vor dem dunklen Blau fremd, ein schwarzer Klotz, wie ein Gefängnis ohne Fenster, als hätten wir die falsche Auffahrt benutzt, ständen vor einem fremden Haus. Meine Mutter sagte nichts, sondern ging direkt hinein. Ich wartete, dass sie das Licht einschalten würde. Aber alles blieb dunkel. Unser Vater half Martin beim Aussteigen und brachte ihn ins Bett. Um mich kümmerte er sich nicht. Als er schließlich im Schlafzimmer verschwand, schlich ich ihm nach bis an die Tür.
    »Du wolltest sie umbringen, nicht wahr?«, hörte ich ihn sagen. »Du betrügst uns«, sagte sie. »Wie damals.«
    »Wir haben einen Vertrag zu erfüllen!«, brüllte er.
    Plötzlich sprang die Tür auf, mein Vater fiel fast über mich. Ich blickte in das Schlafzimmer, das große Bett brannte und meine Mutter stand im Nachthemd daneben, streckte die Hände aus, als wollte sie sich an dem Feuer erwärmen. Mein Vater kam mit einer Wolldecke zurück und erstickte die Flammen.
    Am Morgen erwachte ich sehr früh. Ich glaubte, einen Knall gehört zu haben. Ich ging in die Küche, auf dem Fußboden rollten Patronenhülsen. In der Hängematte im Garten fand ich meine Mutter. Sie umklammerte eine graue Decke, zog sie bis unters Kinn. Sie tat, als ob sie schliefe. Vor dem Haus entdeckte ich die Katze. Sie war tot, erschossen.
    Mein Bruder kam nackt aus dem Haus gehüpft. Sein Beinstumpf wirkte wie ein überdimensionierter Penis.
    »Du solltest es sein, du.

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