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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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bis das Schreien aufhörte.
    Sie nahm mich an die Hand. »Ich will dir etwas zeigen.«
    Am Wohnungsausgang griff sie nach dem Schlüsselbund. Sie stieg mit mir die Treppe hinab bis in den Keller. Es gab für jeden Mieter einen Kellerraum. Unseren hatte mein Vater zu einer kleinen Werkstatt ausgebaut. Er saß oft darin. Damit man die Maschinen nicht hören konnte, hatte er die Tür und das kleine Fenster isoliert. In der Ecke stand ein alter, abgeschabter Ohrensessel.
    »Setz dich dahin«, sagte meine Mutter. »Du wirst deinen anderen Bruder gleich sehen. Du musst etwas Geduld haben.«
    Sie nahm einen Hammer von der Werkbank und zerschlug zuerst die Glühbirne an der Decke, dann die Glühbirne in der Lampe über dem Werktisch. Noch kam ein Lichtspalt durch die offene Tür.
    »Du wirst ihn sehen«, sagte meine Mutter. »Bleib ganz ruhig sitzen.« Sie ging hinaus, verschloss die Tür. Es war vollkommen dunkel um mich.
    Ich sprang auf, rannte in die Richtung der Tür.
    »Ich will hier nicht bleiben«, schrie ich. Sie gab keine Antwort. Ich legte meinen Kopf gegen das Holz der Tür. Ich hörte ihre Schritte im Gang. Sie entfernten sich.
    Ich rief noch ein paarmal nach ihr. Mit weit nach vorn gestreckten Armen versuchte ich, zurück zu dem Sessel zu gehen. Ich stieß an eine Truhe, an die Werkbank, etwas fiel herunter, aber ich erreichte endlich den Sessel. Sein rauer Stoff roch nach Stroh und Erde. Ich zog mich hinauf und wartete. Mit weit aufgerissenen Augen. Kein Lichtstrahl durchdrang die Dunkelheit. Ich fürchtete mich nicht, denn der Raum war klein und abgeschlossen. Die Finsternis machte mir nichts aus. Meine Mutter hatte mich oft nachts in meinem Zimmer eingeschlossen, wenn ich nicht schlafen wollte. Seit das Baby da war, teilte ich mein Zimmer mit ihm, und die Tür blieb immer offen.
    Mir wurde kalt. Erst jetzt begann ich, stumm zu weinen. Ich spürte die Wärme meiner Tränen auf meinem Gesicht. Sie wurden immer heißer, verbrannten mir die Haut.
    Nach einer Weile waren meine Augen leer und zogen sich in ihre Höhlen zurück. Ich glaubte, so viel geweint zu haben, dass ich blind geworden war. Ich rutschte von dem Sessel, tastete mich wieder zur Tür, um zu testen, ob ich einen dünnen Lichtstrahl von draußen erkennen konnte. Es gelang nicht. Ich legte mich auf den kalten Boden. Mir fiel ein, dass ich in der Truhe einmal eine Wolldecke gesehen hatte.
    Ich tastete mich zur Truhe und hob ihren Deckel. Etwas musste darauf gelegen haben und rollte nach hinten. Ich stieß meine Hände in die Truhe, es war etwas Weiches und Feuchtes darin. Keine Decke. Meine Hände wurden klebrig. Ich wischte sie an meiner Kleidung ab und ging wieder zum Sessel. Nach einer Weile sah ich gelbe Sicheln, wie mehrere Monde. Ich riss die Augen auf. Es blieb dunkel. Ich schloss die Augen wieder, um meinen älteren Bruder zu sehen. Sein Gesicht war weit oben über mir, und es hatte keinen Körper. Sein Kopf musste in einem Korb getragen werden. Obwohl er keine Arme hatte, winkte er mir. Dann rüttelte er an der Tür. Mein Vater schloss die Tür auf, das Licht vom Kellergang überfiel mich und füllte meine trockenen Augen mit Schmerzen.
    »Komm«, sagte er. Ich stieg hinter ihm hinauf in die Wohnung.
    »Was hast du da?«, fragte er und betrachtete meine Hände. Sie waren voller getrocknetem Blut.
    Ich schüttelte den Kopf. »Es ist nichts.«
    Meine Mutter war nicht in der Wohnung.
    »Sie ist weg. Das Baby auch«, sagte mein Vater. »Vielleicht für immer.«
    Ich legte mich in mein Bett und rieb mir die Hände. Mein älterer Bruder hatte dort unten im Keller in der Truhe gelegen. Er war tot.
    Meine Mutter kam noch am selben Tag zurück.
    Ich weiß nicht, ob diese Erinnerung stimmt, ob das wirklich so war. Manchmal kommt es mir vor, als sei alles ein Traum gewesen, der nur so viel an Deutlichkeit gewonnen hatte, dass ich ihn mit der Wirklichkeit verwechselte. Aber diese Bilder stecken als ein winziger Stachel in meinem Kopf. So klein, dass er sonst nicht auffällt oder stört. Nur ein dunkler Punkt in der Haut. Ein kleiner Dorn, ein kaum sichtbarer Splitter, der tief im Daumen steckt. Ich weiß nicht, wie und wo ich ihn bekommen habe. Ich weiß nicht, wie das Holzstück, das ganze Brett aussieht, von dem er stammt. Und der Splitter wächst nicht heraus wie alle anderen, die man sonst einmal im Daumen hat.
    Ich bemerke ihn nur, wenn ich ihn berühre.

6
    Staub hing in der Luft. Ich ging dicht hinter der Frau mit den weißblonden Haaren und dem

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