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Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman

Titel: Das Jahr in dem ich beschloss meinen Grossvater umzubringen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunter Gerlach
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Sie.«
    »Bemühen Sie sich nicht.«
    »Sie sollten es sich ansehen.«
    »Ich bin nicht interessiert.«
    »Dann ist es vielleicht besser, wenn ich in den hinteren Raum gehe, um meine Prothese anzulegen.«
    Ich sah mich um, ob es ein Versteck für mich gab. Plötzlich begriff ich: Er wusste, dass ich hier war.
    »Nicht einmal das ist notwendig. Ich ertrage den Anblick«, sagte sie. »Außerdem funktioniert dahinten das Licht im Augenblick nicht. Sie würden stürzen.«
    »Es mag sein, dass ich Ihnen gleichgültig bin, mir sind Sie es nicht.« Er stellte seine Krücken ab und lehnte sich gegen einen der Sekretäre. »Ich mag Sie. Das wissen Sie doch?«
    »Danke.«
    »Sie sind weder verheiratet, noch haben Sie einen festen Freund. Sie sind nicht der Mensch, für den sich Bekanntschaften leicht ergeben, ein Partner fürs Intime. Stimmt's?«
    Sie antwortete nicht. Da sie mit dem Rücken zu mir stand, konnte ich auch ihre Mimik nicht beurteilen. Ich sah nur, wie sie sich etwas duckte.
    »Insofern sind wir uns ähnlich«, fuhr er fort. »Uns beiden fehlt etwas, das man uns genommen hat. Mir gewaltsam, Sie haben es sich freiwillig genommen. Aber das genau macht uns interessant. Geben Sie es zu, es lässt uns als ideale Partner erscheinen.«
    Er öffnete seine Hose, ließ sie fallen. Ich sah den Ansatz seiner Unterhose, bunte Boxershorts. Offensichtlich zeigte er seinen Beinstumpf.
    »Sehen Sie sich diesen Riesenpenis an«, sagte er.
    Eva hob die Beinprothese vom Schreibtisch und reichte sie ihm. »Wie ist das passiert? In einem Krieg?«
    »Vielleicht war es Teil eines Kriegs.«
    »Erzählen Sie mir die Geschichte.«
    »Ich war fünf. Ich spielte in der Einfahrt unseres Hauses. Mein Vater hatte seinen Wagen vor der Garage stehen lassen. Mein Bruder, der drei Jahre älter ist als ich, stieg in den Wagen und löste die Handbremse. Der Wagen rollte rückwärts, immer schneller, ich bemerkte es zu spät. Ein Rad rollte mir über das Bein. Ich kann meinem Bruder keine Vorwürfe machen. Obwohl wir immer aufeinander losgingen, uns bis aufs Blut zankten. Wir fochten einen Krieg aus. Bis heute sind wir keine Freunde. Aber ich sag mal, es war keine Absicht von ihm. Er konnte den Wagen nicht anhalten, und er wusste nicht, dass ich auf dem Weg spielte.«
    Er hatte die Prothese angelegt und mit Mühe seine Hose wieder hochgezogen. Er schloss den Gürtel und ging ein paar Probeschritte im Raum auf und ab.
    »Mein Bruder hat sich völlig von der Familie zurückgezogen. Er glaubt bis heute, er wäre schuld an dem Unglück. Er kann meinen Anblick nicht ertragen.«
    Er griff sich seine Stöcke, ging zu dem Modellkasten im Fenster und klopfte dagegen. »Wissen Sie«, sagte er, »wenn mein Bruder diesen Kasten haben will, schenke ich ihm das Ding. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß.«
    »Ich glaube, er wird das Geschenk nicht annehmen.«
    »Sie haben recht. Machen Sie irgendeinen Preis, den Sie für angemessen halten und den er bezahlen wird. Sehen Sie zu, dass es so viel ist, dass Sie mich bei Gelegenheit davon zum Essen einladen können.«
    Er hob die Hand zum Abschied. »Ein harmloses Essen. Ich bitte Sie, ich bin kein Unmensch. Ich werde mich anständig benehmen.«
    Er verließ das Geschäft. Ich kam aus meinem Versteck, um ihm hinterherzusehen. Er ging, fast ohne zu schwanken, ohne zu hinken, über die Straße. Sicher half ihm die Elektronik dabei. Er schwang sich in sein Auto, musste hier allerdings mit den Händen nach unten greifen und sein Bein korrigieren, und fuhr davon.
    »Stimmt die Geschichte?«, fragte Eva.
    »Es war eine neue Version. Aber bei solchen Ereignissen kann man seinen eigenen Erinnerungen niemals vollständig trauen.«
    »Seinen Erinnerungen oder Ihren?«
    Ich hob die Schultern.

5
    »Ich will wissen, wo mein Bruder ist!«
    Meine Mutter schlug ohne Vorwarnung zu. Ich weinte nicht. Ich hatte das erwartet. Denn seit Stunden fragte ich nach dem Verbleib meines älteren Bruders. Martin war vor kurzem geboren worden. Und ich hatte plötzlich die Gewissheit, einen älteren Bruder besessen zu haben.
    Der Schlag schleuderte mich gegen Martins Bettchen. Meine Nase blutete. Mein neuer Bruder begann zu schreien. Meine Mutter beugte sich zu mir, wischte mir das Gesicht. Ihre Augen blieben mein Feind.
    »Und welchen Namen soll dein Bruder gehabt haben?«
    »Er hieß auch Martin. Ich weiß genau, dass ich schon einmal einen Bruder hatte, der Martin hieß.«
    Meine Mutter erhob sich, ging zu dem Baby und schaukelte an dem Bett,

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