Das Jahrhundert der Hexen: Roman
Erledigung führte. Schließlich blieb ihr Begleiter stehen und öffnete vor Ywha eine Glastür, die mit weißer Krankenhausfarbe überstrichen war.
Hier gab es Publikum, Frauen, die auf einer langen Bank an der Wand saßen. Und einen Wachtposten, der an der gegenüberliegenden Wand in einem Sessel neben der schweren, gepanzerten Tür döste.
Ywhas Mund trocknete aus. Warum auch immer.
»Warten Sie hier!« Ihr Begleiter nickte in Richtung eines freien Stuhls und eilte zur Tür, wobei er irgendwelche Papiere aus irgendwelchen Aktenmappen kramte. Der aufwachende Posten erhaschte seinen Blick, und Ywha bemerkte, wie der ewige Assistent zu ihr hinüberschaute, als wollte er sagen: Passen Sie auf sie auf.
Sie setzte sich auf die Stuhlkante.
Mit ihr warteten – und sie warteten, das ließ sich ihrer linkischen, verkrampften Haltung klar entnehmen – vier Frauen. Sie alle starrten Ywha jetzt an. Nicht offen, sondern verschämt. Die vier, das waren: eine Alte, eine Frau in mittleren Jahren und zwei junge Frauen zusammen, eine dürre und eine pummelige. Obwohl sie sich weder in Kleidung, vom Gesicht oder Auftreten ähnelten, nahm Ywha klar eine gewisse Gemeinsamkeit wahr, die jene vier Frauen stärker miteinander verband als die Bank, auf der sie momentan saßen.
Kurz darauf ging ihr ein Licht auf. Genauer, sie glaubte dahintergekommen zu sein: Die Wartenden mussten Hexen sein. Nicht initiierte, wie sie selbst. Der Umgang mit Klawdi Starsh hatte ihr, von einigen anderen Vorteilen abgesehen, auch ein vages Verständnis von der Klassifizierung ihresgleichen vermittelt.
Die Tür öffnete sich einen Spaltweit. Ywha, aus ihren Überlegungen gerissen, rechnete mit ihrem Begleiter, doch stattdessen trat eine schwarzhaarige, bleiche Frau mit verweinten Augen heraus. Sie drehte sich um und ging an dem Wachtposten vorbei zum Ausgang. Die auf der Bank wartenden Frauen blickten ihr nach.
»Die Nächste«, sagte eine mechanische Stimme. Erst da bemerkte Ywha den Lautsprecher über der gepanzerten Tür.
Die pummelige junge Frau erhob sich unbeholfen, zog den Kopf ein und schlurfte mit hängenden Schultern zur Tür, durch die die verweinte Frau herausgekommen war. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, richteten sich erneut drei Augenpaare auf Ywha.
Nun verstand sie auch, was sie verband. Alle drei zeigten dieselben trüben Gesichter, denselben gehetzten Blick.
»Soll ich dir erzählen, wie die Registrierung aussieht?«
»Hexe, vergiss nie, dass dich die Gesellschaft nicht zurückweist. Erhebe dich über den Abschaum und lass dich registrieren, damit du eine gleichberechtigte und gesetzestreue Bürgerin wirst.«
Das waren sie also, die gleichberechtigten und gesetzestreuen Bürgerinnen. Hier saßen sie also – nebeneinander. Wie oft sie wohl herkamen, um sich zu melden? Einmal im Monat? Einmal in der Woche? Oder – in besonderen Fällen – täglich?
Verbitterte, verschüchterte und in die Ecke gestellte Figuren. So sahen Zirkusbären aus, die ihrer Kette nie entkamen. Das Fell der Waldherrscher verklumpte, die Augen eiterten, wenn sie sich unter Getrommel auf den Hinterbeinen drehten.
Ywha senkte den Kopf, wollte diesen immer bohrenderen Blicken entkommen. Mit einem Mal erdrückte sie das alles.
Nasar. Klawdi. Sah sie etwa gerade in die trüben Pupillen ihrer baldigen Zukunft?
»Da wird man dir gern helfen, dein Schicksal zu wählen. Eine Papierfabrik am Stadtrand und die väterliche Aufsicht der Inquisition dürften deinen Erwartungen vom Leben doch voll und ganz entsprechen, oder etwa nicht?«
Mit Nasar war alles aus. Da gab es keine Hoffnung mehr. Selbst der Großinquisitor hatte sie zu den Akten gelegt. Blieb ihr überhaupt eine Wahl?
Wir sind wie du, sagten wortlos die Gesichter der Frauen, die auf der Bank saßen. Wir haben uns auch geschworen, lieber zu sterben, als in Gefangenschaft … Aber uns blieb kein anderer Ausweg. Und so leben wir … Früher einmal waren wir wie du, mit funkelnden Augen, stur und böse. Und du wirst genau wie wir werden. Gehorsam. Das hat sogar gewisse Vorteile, du wirst es bald bemerken.
Ywha sog die Luft durch die zusammengepressten Lippen ein. Die gepanzerte Tür flog sperrangelweit auf, und ihr Begleiter, inzwischen noch mürrischer, schoss an ihr vorbei: »Gehen wir.«
Kaum schloss Ywha die weiße Glastür hinter sich, fühlte sie sich besser.
Um sieben Uhr abends heulte die Sirene los, die die Sondereinheit der Inquisition zu einem Notfall rief. Um 19.30 Uhr
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