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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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evakuierte man in kleinen Gruppen Kinder und Eltern aus dem abgesperrten Gebäude des Stadtzirkus. Eine exzellente Wahl der Objekte, dachte Klawdi, der mit dem Fingernagel an einem Pflaster auf der Stirn herumpolkte. Erst der Nachtclub, jetzt der Zirkus …
    Die Wolken, die so lange über den Provinzen gehangen hatten, hatten Wyshna erreicht.
    Gestern Abend hatte der Herzog einen Bericht für den Staatsrat verlangt, was Klawdi glücklicherweise hatte abschmettern können. Die Regierung versuchte ständig, die Inquisition unterzubuttern, manchmal aus Gier, manchmal aus Angst. Alle Großinquisitoren aller Zeiten hatten sich Vereinnahmungsversuchen mehr oder weniger erfolgreich widersetzt. Klawdi bildete da keine Ausnahme.
    Die Morgenzeitungen hatten Bilder des Straßenbahnunglücks gebracht. Die Abendzeitungen kannten nur ein Thema: den Überfall der Hexen. Der langjährige Einsatzleiter Kosta, inzwischen wieder bei Bewusstsein, lag im städtischen Krankenhaus, die Ärzte hielten sich, was seinen Zustand betraf, bedeckt. Offenbar war eine Gehirnblutung diagnostiziert worden.
    Klawdi machte sich jedoch nichts vor. Alles, was bislang in Wyshna passiert war, stellte im Unterschied zur Epidemie in Rjanka und dem versuchten Terroranschlag im Stadion von Odnyza nur eine psychologische Attacke dar. Eine effektvolle Einschüchterung zwar, ein Hochschrauben der Emotionen. Von Angst nährten sich Hexen. Es war ihr Mutterboden.
    Eine effektvolle Einschüchterung. Doch das erste Blut war bereits geflossen.
    Völlig offen zog man die Leichen – einen Löwen und drei Tiger – durch den Regen, die aufgelöste Polizisten erschossen hatten. Heulende Krankenwagen transportierten einen blutüberströmten Zuschauer nach dem anderen aus dem Zirkus ab. Unter der Androhung, Gummiknüppel einzusetzen, wurden alle Frauen, die sich an diesem Abend im Zirkus befanden, von den Männern getrennt und, von Plastikschilden abgeschirmt, durch einen schmalen Ausgang geleitet, einzeln, unter den gestrengen Blicken zweier eifriger Inquisitoren. Kinder weinten, an den Röcken ihrer Mütter hängend. Luftballons platzten, jemand verfluchte die Hexen, ein anderer schimpfte auf die Inquisition. Äußerlich unbeteiligt stand Klawdi dabei, presste nur hin und wieder die Hand gegen das zuckende Lid. Wiederum witterte er keine Hexe. Genau wie im Nachtclub. Da er fürchtete, einen Fehler zu machen, wartete er untätig ab.
    Die Menge umflutete ihn, ohne ihn zu berühren. Nur ein etwa achtjähriges Mädchen mit einer in den Nacken gerutschten weißen Schleife rempelte ihn an und starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an. Irgendwo in der erschrockenen Masse irrte ihre ebenso panische Mutter herum. Oder sie war bereits in den Ring aus Plastikschilden geraten und steckte jetzt in ihm fest. Alle rannten, alle hatten Kinder, alle …
    »Keine Angst«, sagte Klawdi. Das Mädchen reagierte jedoch nicht auf seine Worte – sie verstand sie gar nicht –, sondern auf das fremde, strenge und schreckliche Gesicht, das sie aufjammern ließ und weitertrieb.
    Einzelheiten über die Vorstellung erfuhr Klawdi erst später. Indem er sich die Videoaufzeichnungen der Zeugenaussagen anschaute, Berichte und Erklärungen las, machte er sich ein besseres Bild von den Ereignissen, als wenn er selbst dabei gewesen wäre und im Saal gesessen hätte, inmitten der herausgeputzten, mit Bonbonpapier knisternden minderjährigen Menge. Irgendwann sah er, in Wolken von Tabakqualm schwimmend, alles völlig real vor sich. Er fühlte sich wie ein Kind, das die Vorstellung besuchte, wie dieses kleine Mädchen mit der weißen Schleife zum Beispiel …
    … Also, erst kam ein großer Vorraum, wo man Luftballons und Lutscher kaufen konnte. Da roch es nach Parfüm und Puder und ganz doll nach Tieren, aber es hat nicht gestunken, nur in der Nase gekitzelt. Die Stühle waren aus Holz und zum Hochklappen. Die Kinder haben alle gezappelt. Dreimal hat es geläutet, wie im Theater. Sobald das grelle Licht ausging, kribbelte es dem Mädchen mit der weißen Haarschleife in der Brust. Es war schon lange nicht mehr im Zirkus gewesen. Ganz lange nicht.
    In die Vorstellung am Abend kamen meistens keine Schulklassen mit der Lehrerin, sondern Familien, angeführt von der Mama oder Oma. Als Zweites sollten dressierte Raubtiere auftreten. Zuerst führten Zauberer ihre Kunststücke vor. Das waren zwar Zwillingsbrüder, aber die sahen sich gar nicht ähnlich. Die hatten bloß genau dieselben schwarzen Overalls an und rote

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