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Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Das Jahrhundert der Hexen: Roman

Titel: Das Jahrhundert der Hexen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Dyachenko , Marina Dyachenko
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eingequetscht.
    Der Dompteur im roten Frack und Sporthosen lief in die Manege. Auch er fing an zu schießen.
    In der Manege entstand eine Pfütze von dem Wasser aus dem zerschossenen Schlauch.
    Als alle Leute losrannten, wurde das Mädchen von seiner Mutter getrennt.
    Während das Mädchen in wilder Panik zwischen den fremden Leuten, die wie Blinde herumirrten, nach seiner Mama suchte, rempelte es einen Mann an, der sich gar nicht bewegte und ein ganz böses Gesicht machte. »Mama!«, schrie es.
     
    Genau in dem Augenblick, als das Mädchen, sich an Tränen verschluckend, in der Menge verschwand, schien der Schleier in seinem Gedächtnis zu zerreißen. Er witterte sie.
    Jeden, der ihm in die Quere kam, anrempelnd, raste er zum Bühnenausgang, und zwar auf schnellstem Weg, quer durch die Manege, in der es entsetzlich stank, Wasser aus dem Schlauch spritzte und die Reste der Kisten von den Zauberern rumlagen. So musste ein Hund losschießen, der eine Spur aufgenommen hatte, die schon fast kalt war und die er zu verlieren drohte.
    Der Krankenwagen fuhr weg. Klawdi schrie einem Polizisten zu, er solle ihn aufhalten, doch der war so konfus, dass er den Befehl nicht verstand. Daraufhin zog Klawdi seine sonst völlig überflüssige Dienstpistole aus dem Schulterhalfter und schoss auf die Wagenräder. »Die Inquisition!«
    Er hielt dem Polizisten die funkelnde Dienstmarke unter die Nase, schubste einen Gaffer aus dem Weg und jagte dem Krankenwagen nach, der die Fahrt angeschlagen fortsetzte. Noch bevor er die Türen aufgerissen hatte, nahm er die gierige Kampfbereitschaft einer Hexe wahr.
    Neben dem Fahrer saß ein junger Mann mit breitkrempigem Hut und einer geblümten Seidenkrawatte. Klawdi riss die aneinandergelegten Arme in Richtung seiner zu Schlitzen verengten Augen hoch. Der Fahrer hickste dumm, der Verwundete auf der Trage stöhnte.
    Der Beifahrer fasste sich an die Kehle. Sich windend, versuchte er dem Zugriff der Inquisition zu entkommen. Die bleichen Wangen nahmen eine grünliche Farbe an. Er verfügte über eine gewaltige Angriffslust, bei nur schwacher Verteidigung.
    Der Mann zirpte schwach und ging ins Hohlkreuz. Sein Jackett klaffte an der Brust auseinander, das Seidenhemd spannte und zeichnete deutlich die Konturen von zwei kleinen festen Brüsten nach. Klawdi schlug noch einmal zu. Und noch einmal, wobei dieser letzte Schlag von purer Grausamkeit geprägt war. Die Hexe tauchte in die Bewusstlosigkeit ab.
    Der Fahrer staunte mit offenem Mund – und plötzlich sah sich Klawdi in seinen Augen, wie er, eine Bestie, grundlos auf einen Menschen einschlug. Noch dazu eine Frau – denn der Mann mit dem breitkrempigen Hut war eine Frau, was jedoch als verzeihliche Sünde gelten durfte, die es nicht rechtfertigte, auf einen Krankenwagen zu schießen, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, eine Frau zu quälen und bewusstlos zu schlagen!
    »Die Inquisition der Stadt Wyshna«, erklärte Klawdi angeekelt.
    Von allen Seiten eilte man herbei.
     
    »Verfolgt dieses Geschehen jemand, so wird er sich befremdet zeigen, verängstigt. Ein jeder Inquisitor bezwingt jedwede meiner Herrinnen, ohne sie auch nur zu berühren, allein durch einen lautlosen Befehl. Zeichen werden in Stein gemeißelt, in Eisen geprägt. Diese Zeichen dienen uns dazu, meine Herrinnen zu bändigen. Ein solches Zeichen ist ein Schild, bisweilen auch eine Spitze. Im offenen Kampf taugen sie indes nichts. Manchmal hinterlässt einer meiner Brüder, von Verzweiflung aufgerieben, ein Zeichen direkt in der Luft, wiewohl dies ein Akt ist, der seine Kräfte zumeist übersteigt, von Hoffnungslosigkeit zeugt und nur selten zum Sieg führt. Ein Zeichen, in die Luft gemalt, verlangt uns viel ab, doch es gibt uns wenig zurück.
    Heute musste ich, nachdem ich die Treppe hochgestiegen war, erstmals innehalten, um zu verschnaufen. Die Jahre … Die Köchin hat für den Winter fünf Fässlein Milchlinge eingesalzen, des Weiteren fünf Fässlein mit allerlei Gemüse sowie ein Dutzend Räucherschinken aufgehängt.
    Ich sträube mich gegen das Herbstende. Schreckliche Vorgefühle suchen mich heim …
    Ich hätte die drei Hexen vor dem Scheiterhaufen retten sollen, und jene, die den Brunnen vergiftet hat, hätte in ihrer Gemeinde vor Gericht gestellt werden müssen.
    Die Jahre beugen meine Schultern. Was werde ich meinem himmlischen Richter sagen, wenn ich vor seinen Thron trete? Dass ich mein Lebtag damit zugebracht habe, meine Herrinnen zu töten? Weil sie gleichfalls

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