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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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sie ab. Dann ging er an ein Tischchen mit einem Wasserkessel, ein paar Tassen und Untertassen und einem einflammigen Gaskocher.
    «Kaffee?», fragte er.
    «Gern, Pater.»
    «Setzen Sie sich, mein Freund.» Er zeigte auf einen von zwei abgewetzten Sesseln. Ich nahm Platz und zog meine Zigaretten heraus.
    «Stört es Sie, wenn ich rauche?», fragte ich und bot ihm eine Lucky an.
    Er lachte. «Nein, das stört mich nicht.» Er nahm eine Zigarette und sagte: «Ich glaube, die meisten Jünger des Herrn wären heute Raucher, meinen Sie nicht? Schließlich waren es Fischer. Mein Vater war auch Fischer, aus Genua. Alle italienischen Fischer rauchen.» Er zündete zuerst das Gas an, dann unsere Zigaretten. «Wenn Christus heute auf dem Fischerboot wäre und es gäbe Sturm, würden sie mit Sicherheit alle rauchen. Wenn man Angst hat, ist Rauchen das Einzige, was man tun kann, ohne so auszusehen, als fürchtete man sich. Wenn man auf dem Meer in einen schlimmen Sturm kommt und dann anfängt zu beten oder fromme Lieder zu singen, macht das anderen wohl nicht viel Mut, oder?»
    «Ich würde sagen, das kommt ganz auf das Lied an, meinen Sie nicht?», fragte ich, in der Annahme, dass das mein Stichwort war.
    «Mag sein», sagte er. «Was ist denn Ihr Lieblingskirchenlied?»
    «‹Wie groß bist du›», antwortete ich ohne Zögern. «Ich mag die Melodie.»
    «Ja, da haben Sie recht», sagte er und setzte sich in den anderen Sessel. «Das ist ein schönes Lied. Ich persönlich bin ja mehr für ‹Il Canto degli Arditi› oder ‹Giovinezza›. Das ist ein italienisches Marschlied. Eine Zeitlang hatten wir ja etwas, wofür sich zu marschieren lohnte. Aber das Lied, das Sie genannt haben, ist auch nicht schlecht.» Er lachte leise. «Ich habe das Gerücht gehört, die Melodie soll der des Horst-Wessel-Lieds ziemlich ähnlich sein.» Er zog an seiner Zigarette und blies den Rauch aus. «Ist schon eine ganze Weile her, dass ich dieses Lied das letzte Mal gehört habe. Ich habe den Text schon fast vergessen. Vielleicht können Sie ihn mir ja wieder in Erinnerung rufen.»
    «Sie wollen doch wohl nicht, dass ich es singe», sagte ich.
    «Doch», sagte er. «Wenn Sie so nett wären. Bitte, tun Sie mir den Gefallen.»
    Ich hatte das Horst-Wessel-Lied immer schon verabscheut. Und doch kannte ich den Text nur zu gut. Es hatte Zeiten gegeben, da man nicht durch Berlin laufen konnte, ohne dieses Lied mehrmals am Tag zu hören, und ich erinnerte mich gut daran, wie man kaum ins Kino hatte gehen können, ohne in der Wochenschau damit beschallt zu werden. Außerdem erinnerte ich mich an Weihnachten 1935, als beim Weihnachtssingen in der Kirche Leute das Horst-Wessel-Lied angestimmt hatten. Aber ich selbst hatte es nur gesungen, wenn ich andernfalls riskiert hätte, von SA-Horden zusammengeschlagen zu werden. Ich räusperte mich und erhob meinen fast völlig unmusikalischen Bariton:
     
    «Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen! …»
     
    Nach Vollendung der zweiten Strophe nickte er und reichte mir dann ein Tässchen schwarzen Kaffee. Ich legte dankbar die Hände darum und inhalierte den bittersüßen Duft. «Wollen Sie die anderen beiden Strophen auch noch?», fragte ich.
    «Nein, nein.» Er lächelte. «Das gehört einfach zu den Sachen, die ich die Leute tun lasse. Nur um sicher sein zu können, mit wem ich es zu tun habe, wenn Sie verstehen.» Er klemmte die Zigarette in den Mundwinkel, kniff ein Auge gegen den Rauch zusammen und zückte Notizbuch und Bleistift. «Man muss ja aufpassen. Es ist eine elementare Vorsichtsmaßnahme.»
    «Ich weiß nicht recht, was das Horst-Wessel-Lied beweist», sagte ich. «Bald nach der Machtergreifung konnten die Linken den Text vermutlich genauso gut wie wir. Manche mussten ihn sogar im Konzentrationslager lernen.»
    Er schlürfte seinen Kaffee und überging meinen Einwand. «Nun, denn», sagte er. «Ein paar Einzelheiten. Name.»
    «Erich Grün», sagte ich.
    «Parteinummer, SS-Nummer, Rang, Geburtsort und -tag, bitte.»
    «Hier», sagte ich. «Ich habe Ihnen schon alles aufgeschrieben.» Ich reichte ihm das Blatt mit den Notizen, die ich beim Studium der Akte Erich Grün in der russischen Kommandantura gemacht hatte.
    «Danke.» Er überflog die Seite und nickte. «Haben Sie irgendeinen Ausweis bei sich?»
    Ich gab ihm Erich Grüns Pass. Er studierte ihn gründlich, klemmte dann Pass und Blatt hinten in sein Notizbuch.
    «Das muss ich vorerst leider behalten», sagte er. «Also, gut, dann erzählen

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