Das Janusprojekt
genug.
7
Ich blieb ein paar Stunden im Krankenhaus. Dann erklärte mir die Schwester, sie würde mich anrufen, falls irgendeine Verschlechterung einträte, und da ich nur in meinem Büro Telefon hatte, musste ich dorthin gehen statt in meine Wohnung. Außerdem war es von der Galeriestraße näher zum Krankenhaus als von Schwabing aus. Zwanzig Minuten zu Fuß. Zehn, wenn die Straßenbahnen fuhren.
Auf dem Rückweg ging ich in den Pschorr-Keller in der Neuhauser Straße, auf ein Bier und eine Bratwurst. Eigentlich stand mir nach beidem nicht der Sinn, aber es ist nun mal eine alte Polizistengewohnheit, dann zu essen, wenn man kann, und nicht dann, wenn man Hunger hat. Ich kaufte noch einen Viertelliter Black Death über den Tresen, steckte ihn ein und ging. Ich würde ihn vermutlich als Betäubungsmittel brauchen. Ich hatte schon einmal eine Ehefrau durch die Grippe verloren, während der großen Epidemie von 1918. Und ich hatte in Russland genügend Männer sterben sehen, um die Vorzeichen zu erkennen. Die langsam, aber stetig blau werdenden Hände und Füße. Den Schleim in der Luftröhre, den man nicht loswurde. Das schnelle Atmen, gefolgt von Luftanhalten, dann wieder das schnelle Atmen. Den leichten Fäulnisgeruch. Die Wahrheit war: Ich wollte nicht dort sitzen und Kirsten beim Sterben zuschauen. Ich redete mir ein, Kirsten lebendig in Erinnerung behalten zu wollen, aber das stimmte nicht. Ich war ein Feigling. Zu feige, um es an ihrer Seite durchzustehen. Kirsten hätte mehr von mir erwarten können. Ich hätte sicher mehr von mir erwartet.
Ich betrat mein Büro, knipste die Schreibtischlampe an, stellte die Flasche neben das Telefon und legte mich auf das knarzende grüne Ledersofa aus der Hotelbar. Außerdem gab es einen dazu passenden Knopfpolstersessel mit abgewetzten, rissigen Lederarmlehnen. Neben dem Sessel stand ein Rollsekretär, und auf dem Boden lag ein abgetretener grüner Buchara – beides aus dem Hotelbüro. Die andere Hälfte meiner Bürosuite nahmen ein Konferenztisch und vier Stühle ein. An der Wand hingen zwei gerahmte Stadtpläne von München. Ein kleines Regal beherbergte Telefonbücher, Eisenbahnfahrpläne sowie diverse Broschüren und Informationsblätter, die ich im Amtlichen Auskunftsbüro in der Sonnenstraße eingesteckt hatte. Alles zusammen sah etwas gehobener aus, als es war, aber nicht viel. Es war genau die Sorte Örtlichkeit, wo man Männer fand, die nicht den Mumm hatten, am Bett der eigenen Frau zu sitzen und darauf zu warten, dass sie starb.
Nach einer Weile stand ich auf, goss mir einen Black Death ein, kippte ihn und ließ mich wieder aufs Sofa fallen. Kirsten war vierundvierzig. Viel zu jung, um zu sterben. Es war so himmelschreiend ungerecht und hätte meinen Glauben an Gott endgültig erschüttert, wenn ich ihn noch besessen hätte. Kaum jemand kehrte aus einem sowjetischen Gefangenenlager zurück und glaubte noch an irgendetwas anderes als an den menschlichen Hang zur Unmenschlichkeit. Dass jemand einen Krieg wie diesen, in dem so viele Zivilisten umgekommen waren, überlebt hatte, nur um dann an Grippe zu sterben, schien doch absurd. Viel absurder als 1918, als so viele Menschen an der Grippe gestorben waren. Aber andererseits schien so etwas aus der Perspektive derer, die zurückblieben, wohl immer ungerecht.
Es klopfte an der Tür. Ich machte auf, und vor mir stand eine große, gutaussehende Frau. Sie lächelte mich unsicher an, deutete dann auf den Namen auf der Milchglasscheibe der Tür. «Herr Gunther?»
«Ja.»
«Ich habe von der Straße aus Licht gesehen», sagte sie. «Ich hatte bei Ihnen angerufen, aber Sie waren nicht da.» Ohne die drei sichelförmigen Narben auf der rechten Wange wäre sie im herkömmlichen Sinn hübsch gewesen. Die Narben sahen ein bisschen so aus wie die drei kleinen Herrenwinker, die Zarah Leander in diesem alten Film über einen Stierkämpfer gehabt hatte – einem von Kirstens Lieblingsfilmen. La Habanera . Das musste 1937 gewesen sein. Vor tausend Jahren.
«Ich bin noch nicht dazu gekommen, mir eine Sekretärin zuzulegen», sagte ich. «Ich habe dieses Büro erst kürzlich eröffnet.»
«Sie sind Privatdetektiv?» Sie klang etwas erstaunt und musterte mich ein paar Sekunden so eindringlich, als versuchte sie abzuschätzen, was für ein Mensch ich war und ob sie mir vertrauen konnte.
«Steht da an der Tür», sagte ich, wohl wissend, dass ich im Moment nicht gerade wie die Vertrauenswürdigkeit in Person aussah.
«Vielleicht
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