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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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war es ja doch ein Fehler», sagte sie mit einem Seitenblick zur offenen Flasche auf dem Schreibtisch. «Entschuldigen Sie die Störung.»
    Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich mich auf meine Manieren und meinen Charme besonnen, ihr einen Stuhl angeboten, die Flasche weggeräumt und höflich gefragt, was sie zu mir führe. Hätte ihr vielleicht sogar zur Beruhigung ihrer Nerven einen Black Death und eine Zigarette angeboten. Es kam gar nicht selten vor, dass Leute plötzlich kalte Füße bekamen. Vor allem Frauen. Einen Detektiv leibhaftig vor sich zu haben – seinen billigen Anzug zu sehen, seinen Körpergeruch und sein schweres Rasierwasser in die Nase zu bekommen –, kann schon ausreichen, um potenziellen Kunden das Gefühl zu geben, es wäre vielleicht doch besser, nicht zu erfahren, was sie glaubten, erfahren zu wollen. Es gibt einfach zu viel Wahrheit auf der Welt. Und zu viele Kerle, die bereit sind, sie einem vor den Latz zu knallen. Aber im Moment fehlte es mir ein wenig an Manieren und gänzlich an Charme. Wenn gerade die eigene Frau im Sterben liegt, kann einem beides schon mal abhandenkommen. Aus reiner Gewohnheit trat ich zur Seite, als forderte ich sie wortlos auf, es sich doch noch anders zu überlegen und hereinzukommen, aber sie blieb, wo sie war. Vielleicht hatte sie ja meine Fahne gerochen, meine wässrig-selbstmitleidigen Augen gesehen und befunden, dass ich Alkoholiker sei. Dann machte sie auf einem ihrer eleganten hohen Absätze kehrt.
    «Gute Nacht», sagte sie. «Entschuldigung.»
    Ich folgte ihr in den Treppenflur hinaus und sah ihr nach, wie sie über das Linoleum zur Treppe stöckelte. «Ihnen auch eine gute Nacht», sagte ich.
    Sie drehte sich nicht nochmal um. Sie sagte nichts mehr. Und dann war sie weg und hinterließ nichts als eine Duftwolke. Ich sog die letzten Spuren ein, durch die Nase bis in den Bauch und an all die wichtigen Stellen, die meine Männlichkeit ausmachten. Wie es gedacht war. Es war eine sehr angenehme Abwechslung nach dem Krankenhausgeruch.

8
    Kirsten starb kurz nach Mitternacht, als ich schon so viel Betäubungsmittel intus hatte, dass es sich einigermaßen erträglich anfühlte. Es fuhren keine Straßenbahnen mehr, also ging ich zu Fuß zum Krankenhaus, einfach nur um zu beweisen, dass ich es konnte wie ein normaler Mann. Ich hatte sie lebendig gesehen, ich brauchte sie nicht tot zu sehen, aber in der Klinik wollten sie es so. Ich nahm sogar die Heiratsurkunde mit. Ich sagte mir, dass es besser war, es hinter mich zu bringen, solange sie noch wie ein menschliches Wesen aussah. Es verblüfft mich immer wieder, wie schnell das vergeht. Eben noch war jemand so voller Leben wie ein Korb mit kleinen Kätzchen, und ein paar Stunden später sieht er schon aus wie eine Figur im Hamburger Wachsfigurenkabinett.
    Die Schwester und der Arzt waren andere, beide eine eindeutige Verbesserung gegenüber der Tagschicht. Die Schwester war ein klein wenig hübscher, der Arzt hatte selbst im Dunkeln etwas erkennbar Menschliches.
    «Es tut mir sehr leid wegen Ihrer Frau», sagte er in einem Flüsterton, den ich für angemessen pietätvoll hielt, bis ich merkte, dass wir mitten im Krankensaal standen, neben dem Tisch der Nachtschwester, umgeben von schlafenden Frauen, die nicht ganz so krank waren wie Kirsten zuletzt. «Wir haben getan, was wir konnten, Herr Gunther. Aber sie war wirklich sehr krank.»
    «Grippe?»
    «Scheint so.» Im Licht der Schreibtischlampe war er sehr dünn, mit einem runden, weißen Gesicht und rotem Haar.
    «Irgendwie komisch, finden Sie nicht?», sagte ich. «Ich habe sonst von niemandem gehört, der Grippe hat.»
    «Um ehrlich zu sein», sagte er, «wir hatten hier mehrere Fälle. Ein Grippepatient liegt noch auf der Nachbarstation. Wir machen uns große Sorgen wegen einer möglichen Ausbreitung. Sie erinnern sich doch sicher an die letzte schwere Epidemie im Jahr 1918, der so viele Menschen zum Opfer gefallen sind. Das wissen Sie doch noch?»
    «Besser als Sie», sagte ich.
    «Allein schon aus diesem Grund», sagte er, «wollen die Besatzungsbehörden, dass alles getan wird, um die Infektionsgefahr einzudämmen. Deshalb ersuchen wir Sie um die Erlaubnis, die sofortige Einäscherung zu veranlassen. Damit sich das Virus nicht weiterverbreiten kann. Mir ist klar, dass das eine sehr schwierige Situation für Sie ist, Herr Gunther. Ihre Frau so jung zu verlieren, muss schrecklich sein. Ich kann nur erahnen, was Sie im Moment durchmachen. Aber wir würden Sie

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