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Das Janusprojekt

Das Janusprojekt

Titel: Das Janusprojekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Kerr
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Sie in solchen Dingen zart besaitet?»
    «Möglich», sagte ich. «Und wenn ich’s bin, dann deshalb, weil ich gesehen habe, wie Männer gehängt und wie Männer erschossen wurden. Ich habe gesehen, wie Männer in Stücke gerissen, dem Hungertod preisgegeben, mit Flammenwerfern geröstet oder von Panzerketten zermalmt wurden. Es ist komisch, aber nach einer Weile wird einem klar, dass man zu viel gesehen hat. Dinge, bei denen man nicht so tun kann, als hätte man sie nicht gesehen, weil sie immer da sind, auf der Innenseite der Augenlider, wenn man schlafen geht. Und dann sagt man sich, dass man lieber nichts Derartiges mehr sehen will. Wenn man es irgend verhindern kann. Was man natürlich kann, weil all die alten Ausreden nicht mehr gelten. Und es haut einfach nicht mehr hin zu sagen, man kann nichts machen, und Befehl ist Befehl, und zu erwarten, dass die Leute das weiterhin schlucken. Also, ja, ich bin da wohl ein bisschen zart besaitet. Schauen Sie doch, wohin uns die Skrupellosigkeit gebracht hat.»
    «Sie sind ein ganz schöner Philosoph, was?», sagte sie. «Für einen Detektiv.»
    «Alle Detektive sind Philosophen, Frau Warzok. Das müssen sie sein. Nur so kann man erkennen, wie viel man von dem, was ein Kunde erzählt, unbeschadet glauben und was man in den Orkus werfen kann. Wer von ihnen so verrückt ist wie Nietzsche und wer nur so verrückt wie Marx. Von den Kunden, meine ich. Sie sagten etwas von zweihundert Mark Vorschuss.»
    Sie bückte sich nach ihrer Mappe, entnahm ihr eine Brieftasche und zählte mir vier Fünfziger in die Hand. «Ich habe auch etwas Schierling mitgebracht», sagte sie. «Wenn Sie den Fall nicht übernommen hätten, hätte ich gedroht, ihn zu trinken. Aber wenn Sie meinen Mann finden, können Sie das Zeug ja ihm geben. Als eine Art Abschiedsgeschenk.»
    Ich grinste sie an. Ich grinste sie gern an. Sie war eine dieser Kundinnen, die meine Zähne sehen musste, nur damit ihr klar war, dass ich auch beißen konnte. «Ich schreibe Ihnen eine Quittung», sagte ich.
    Als unser Geschäft besiegelt war, erhob sie sich, wobei eine Parfümwolke in meine Nase stieg. Ohne die hohen Absätze und den Hut, dachte ich, war sie wahrscheinlich nicht größer als ich. Aber solange sie beides trug, fühlte ich mich wie ihr Lieblingseunuch. Ich nahm an, dass genau dieser Effekt beabsichtigt war.
    «Passen Sie auf sich auf, Herr Gunther», sagte sie und griff nach der Türklinke. Mein wohlerzogenes Ich kam ihr zuvor.
    «Das tue ich immer. Darin habe ich reichlich Übung.»
    «Wann fangen Sie an, ihn zu suchen?»
    «Ihre zweihundert Mark sagen sofort.»
    «Und wie und wo werden Sie das tun?»
    «Ich werde wohl ein paar Steine anheben und schauen, was darunter hervorkrabbelt. Bei sechs Millionen ermordeter Juden stehen da in Deutschland ja eine Menge Steine zur Auswahl.»

11
    Detektivarbeit ist ein bisschen so, wie ins Kino zu kommen, wenn der Film schon angefangen hat. Man weiß nicht, was bisher passiert ist, und während man sich durchs Dunkel tastet, ist es fast unvermeidlich, dass man jemandem auf die Zehen tritt oder im Bild steht. Manchmal beschimpfen einen Leute, aber meistens seufzen sie nur oder machen laut psst , nehmen ihre Beine und Mäntel weg und tun ansonsten so, als sei man gar nicht da. Wenn man seinem Sitznachbarn irgendwelche Fragen stellt, kann von einer ausführlichen Inhaltsangabe samt Besetzungsliste bis zu einem Schlag mit dem zusammengerollten Programm alles passieren. Man bezahlt seinen Eintritt und versucht eben sein Glück.
    Ich würde also mein Glück versuchen, es aber nicht überstrapazieren. Ich würde nicht darangehen, Fragen über alte Kameraden zu stellen, ohne einen Freund an meiner Seite zu haben. Männer, denen der Galgen droht, neigen dazu, mit ihrer Privatsphäre etwas empfindlich zu sein. Ich hatte keine Pistole mehr gehabt, seit ich aus Wien weggegangen war. Ich befand, dass es Zeit war, mir ein Accessoire für jeden Anlass zuzulegen.
    Nach dem nationalsozialistischen Waffengesetz von 1938 hatte man Handfeuerwaffen nur unter Vorlage eines Waffenerwerbsscheins kaufen können, trotzdem hatten die meisten Männer, die ich kannte, irgendeine Art von Schusswaffe besessen. Bei Kriegsende jedoch hatte General Eisenhower die Beschlagnahme aller privaten Schusswaffen in der amerikanischen Zone befohlen. In der Sowjetzone ging es noch strenger zu: Wer als Deutscher auch nur eine einzige Patrone in seinem Besitz hatte, lief Gefahr, standrechtlich erschossen zu werden.

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