Das Jesus Video
anfing zu diskutieren, mußte er feststellen, daß die, die ihm die Antworten zu geben sich für befugt hielten, nicht bereit waren zu diskutieren — denn sie wußten bereits, weil sie glaubten, und wann immer er auf einen Widerspruch hinwies, hieb man ihm wie eine Keule das Argument über den Schädel, es ginge nicht darum, zu zweifeln, sondern darum, zu glauben. Und irgendwann hatte er aufgehört, in dem Sammelsurium kruder Denkzumutungen einen verborgenen Sinn finden zu wollen, den es seinem Gefühl nach einfach nicht gab. Religion war nichts, das irgend etwas zu tun hatte mit dem wirklichen Leben oder mit dem Universum, das er außerhalb seiner selbst vorfand. Er fand staunenswerte Wunder unter dem Okular eines Mikroskops oder beim Blick durch ein Teleskop, und verglichen damit schien ihm das religiöse Weltverständnis kleinkariert und beschränkt. So verschwand die Religion aus seinem Leben, wie zuvor der Glaube an den Weihnachtsmann, an Elfen und Trolle und an den Klapperstorch aus seinem Leben verschwunden war.
Aber, wie er jetzt spürte, eben nicht wirklich. Er hatte Angst! Eine kalte, erbarmungslose Hand schien nach seinen Eingeweiden zu greifen, und eine modrige Stimme hauchte in seinen Gedanken: Was, wenn es doch alles wahr ist? Was, wenn nun doch die Hölle auf dich wartet, weil du vom Glauben abgefallen bist? Die Stimme eines untoten Inquisitors, verwesend seit den Tagen der Hexenverfolgung und keine Ruhe findend, solange es Ketzer gab.
Stephen lehnte sich zurück, schloß die Augen und holte tief Luft. Dann hob er den Kopf, hielt sich mit dem Blick an der lichtgrauen Zeltleinwand fest und wartete, bis die Panik abgeklungen war. Unheimlich.
Draußen hörte er Schritte herankommen, auf sein Zelt zu. Sie waren ihm geradezu willkommen. Die Realität kümmerte sich um ihn, ließ ihn nicht allein im Treibsand alptraumhafter Erinnerungen versinken. Das fand er sehr aufmerksam von der Realität.
Es war einer der Küchenhelfer, ein magerer, dunkelhäutiger Junge, der nicht besonders gut Englisch sprach.»Der Professor will dich sprechen. Du sollst sofort kommen. Und du sollst dein Geschirr abgeben vorher.«
Stephen nickte grinsend. Argumentieren hatte keinen Zweck, der Junge sagte nur sein Sprüchlein auf.»Okay«, sagte er also.»Ich komme sofort. Und ich gebe mein Geschirr ab.«
Der Junge musterte ihn unsicher, offensichtlich unschlüssig, ob Stephen ihn zum Narren halten wollte. Erst als er sah, wie Stephen seinen Computer abschaltete, war er zufrieden und ging.
Judith saß beim Frühstück, später als sonst und ziemlich verschlafen, und dachte über Stephen nach. Sie hatten sich bei der Essensausgabe getroffen, aber er hatte sie nur kurz gegrüßt, als sei weiter nichts gewesen, und sich dann mit der Bemerkung, noch zu tun zu haben, mitsamt seinem üppig beladenen Tablett davongemacht. Seither saß sie hier, allein, und frühstückte in Zeitlupe, während ringsum die anderen Helfer kamen und gingen und sich die Frühstückszeit allmählich dem Ende zuneigte.
Wie war denn das gewesen? Gestern abend hatte es doch mächtig geknistert zwischen ihnen, oder täuschte sie ihre Erinnerung? Sie waren engumschlungen gegangen, und es hatte nicht viel gefehlt, und sie wäre ihm in sein Zelt gefolgt. Was wäre dann heute morgen gewesen? Wenn sie tatsächlich mit ihm geschlafen hätte? Sie wurde den Verdacht nicht los, daß er dann auch etwas ganz Dringendes zu erledigen gehabt hätte.
Jetzt sah sie ihn oben mit seinem Tablett auf dem Rückweg. Er wanderte zwischen den Zeltreihen hindurch, schien einen Abstecher zu ihrem Zelt zu machen. Glaubte er etwa, sie dort zu finden? Sie verstand nicht, was in diesem Mann vorging. Er war attraktiv, natürlich, und sie mochte ihn, ohne Zweifel. Irgendwie jedenfalls. Doch, ja, sie mochte ihn. Er war immer beschäftigt, aber wenigstens war er kein lascher Faulpelz wie viele Männer, die sie kennengelernt hatte und die im Grunde damit zufrieden gewesen wären, ihr Leben lang mit ihren Freunden in Cafes zu hocken und große Sprüche zu klopfen. Bei denen wäre ihre Rolle die der braven Frau gewesen, die zu Hause hockte und die Kinder und den Haushalt versorgte. Stephen verfolgte, was immer er gerade vorhatte, mit einer unbändigen Energie, die rings um ihn Funken sprühte.
Auch erotische Funken. Sie sah, wie sein Kopf wieder hinter ihrem Zelt zum Vorschein kam, und wünschte sich, sie wäre oben gewesen. Hätte seinen Besuch erwartet. Nur um zu erfahren, was er vorgehabt
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