Das Jesusfragment
erklär es dir«, schlug Sophie vor. »Wir befinden uns am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Der Malteser Orden – denn so heißen die Johanniter jetzt – besitzt keineswegs mehr das Ansehen wie einst im Mittelalter. Seine Existenzberechtigung ist gleich null, wenn man den Untergang des Osmanischen Reichs bedenkt. Und vor allem Frankreich, das traditionell den Orden beschützte, hat ihn während der Revolution mehr oder weniger aufgegeben und ist sogar so weit gegangen, den Rittern die französische Staatsbürgerschaft abzusprechen. Schließlich ertragen die Bewohner Maltas immer weniger die Herrschaft dieser arroganten Ritter, die sie mit horrenden Steuern belasten. Kurz gesagt, Napoleon, der zu jener Zeit erst General ist und den das Direktorium zu einer Expedition nach Ägypten schickt, hat keinerlei Mühe, die Erlaubnis der französischen Regierung zu erhalten, auf dem Weg dorthin Malta einzunehmen.«
»Greift er die Johanniter direkt an?«, fragte ich verwundert.
»Ja. Napoleon hat zwei ausgezeichnete Gründe, Malta zu erobern. Erstens, weil es eine einmalige strategische Position im Mittelmeer einnimmt, aber auch aus einem weniger offiziellen Grund. Die Zitadelle von La Valetta, der Hauptsitz der Johanniter, barg angeblich große Schätze, darunter natürlich auch jene Güter, die sie von den Templern geerbt hatten. Und Bonaparte braucht viel Geld, um Komplizen zu gewinnen und den Staatsstreich vom 18. Brumaire vorzubereiten. Also nimmt er im Juni 1798 die Insel ein und ergattert einen Teil der Beute.«
»Und vermutlich befindet sich der Stein von Iorden darunter.«
»Vermutlich«, bestätigte Sophie. »Einige Jahre später hat er vielleicht erfahren, dass es sich um eine Reliquie handelt, und vielleicht ist er zu dem Schluss gekommen, dass sie in den Händen eines Kirchenmanns besser aufgehoben wäre. Vielleicht hat er deswegen den Stein dem berühmten Ales d'Anduze geschenkt.«
»Vielleicht«, wiederholte ich. »Es sind zu viele Vielleichts.«
»Auf jeden Fall«, fuhr François fort, »wissen wir, dass er noch zu Beginn des letzten Krieges, also hundertfünfzig Jahre später, seiner Loge gehört hat.«
»Die Frage ist«, warf Sophie ein, »wer ihn 1940 gekauft hat, als der Staat ihn versteigerte.«
»Das müsste rauszukriegen sein«, meinte François und erhob sich. »Wartet, ich werde fragen.«
Er ging auf den Bibliothekar zu, und die beiden Männer begannen eine lange Unterhaltung mit gedämpfter Stimme. Sophie nutzte die Gelegenheit, um die anderen Bände zu überfliegen, und an der Geschwindigkeit, mit der sie die Seiten scannte, erkannte man, dass sie es gewohnt war, zu recherchieren. Ich sah ihr zu und war verzaubert von ihrem ernsten Blick. Sie war schön, wenn sie ernst war. Das stand ihr hervorragend.
François kehrte zurück, beugte sich über den Tisch und erklärte uns:
»Ich muss euch allein lassen. Wir haben wirklich Glück. Alle Archive waren von den Deutschen geordnet und nach Berlin mitgenommen worden, wo allerdings die Russen sie ihnen abgeknöpft haben. Stellt euch diesen langen Weg vor! Wir haben erst vor kurzem einen großen Teil der Archive des Groß-Orients wiederbekommen, als die Russen bereit waren, sie uns zurückzugeben. Ich will mal einen Blick in die Geschäftsbücher werfen. Leider dürft ihr mir dorthin nicht folgen. Aber ihr könnt hier auf mich warten oder zu Stéphane ins Café gehen …«
Ich warf Sophie einen fragenden Blick zu. Sie gab mir ein Zeichen, dass sie in den Büchern nichts Interessantes gefunden hatte und dass wir gehen konnten.
»Wir warten draußen auf dich«, sagte ich zu François.
Ich bedauerte, nicht mehr Zeit zu haben, um mir den Tempel anzuschauen, von dem mir François so viel erzählt hatte. Aber es war zweifellos nicht der richtige Augenblick und Sophie war nicht unbedingt die ideale Begleiterin, um einen Freimaurertempel zu besichtigen.
Also gingen wir Arm in Arm ins Freie.
»Wir nähern uns dem Ziel«, sagte sie, während wir auf die Fußgängerzone zugingen.
»Ja. Ich frage mich ernsthaft, worauf wir stoßen werden.«
»Es ist ulkig, ich bin so voll auf die Untersuchung konzentriert, dass ich noch nicht einmal Zeit hatte, darüber nachzudenken. Was werden wir finden? Was mag Christus der Menschheit als Botschaft hinterlassen haben?«
»Jedenfalls wissen wir nicht«, erwiderte ich, »ob es wirklich eine Botschaft gibt. Vielleicht ist das Ganze nur ein Riesenbluff.«
»Ich hoffe nicht!«, rief Sophie. »Das wäre wirklich
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