Das Jesusfragment
die Straßencafés aneinander reihten, schien Gordes mehr als anderswo geduldig den Sommer zu erwarten, die Horden von Touristen, die von der Sonne angelockt wurden, zur Freude und zum Missfallen jener, die sie empfingen. Ein lächerliches Spektakel im Angesicht der alten Kirche. Ich wollte sie gerade betreten, als ich im Schatten des rechten Seitenflügels plötzlich einen schwarz gekleideten Priester erblickte, der durch eine kleine Holztür ins Freie trat. Er schritt rasch voran und hatte den Kopf eingezogen, als sei ihm kalt. Auf einmal fiel mir wieder ein, dass er der Priester war, der mich in der Menge vor dem Haus meines Vaters gemustert hatte. Warum hatte er mich mit diesem seltsamen Blick beobachtet? Als ob er mir etwas zu sagen hätte, sich aber nicht traute, mich anzusprechen.
Ich zögerte kurz, dann beschloss ich, ihm zu folgen. Er verließ den kleinen, schattigen Kirchenvorplatz und verschwand in einer steilen Gasse. Ich beschleunigte meine Schritte, bis ich in der Gasse angelangt war, dann fiel ich in ein normales Tempo zurück. Ich wollte ihn nicht sofort einholen. Ich wollte sehen, wohin er ging. Er grüßte im Vorübergehen ein Paar und bog dann in eine kleine Straße zu seiner Linken ein. Ich verlangsamte meine Schritte, blieb etwas zurück, aus Angst, dass er mich entdecken und mir hinter der Mauer auflauern könnte. Als ich die andere Straßenseite erreicht hatte, streckte ich den Kopf vor und sah, wie er auf ein höher gelegenes Haus zusteuerte.
Ohne wirklich zu überlegen, lief ich ihm nach und sprach ihn an. »Hochwürden!«
Er zuckte zusammen. Seine Augen verrieten, dass er mich erkannte. Er warf einen Blick über meine Schulter und bat mich schließlich einzutreten.
»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«, schlug er mit tiefer Stimme vor.
Ein wenig überrascht nahm ich an und folgte ihm in das Pfarrhaus. Seit den dreißiger Jahren schien an der Einrichtung nichts verändert worden zu sein. Sämtliche Farben waren verblasst, das Holz war nachgedunkelt, die Tapete eingerissen. Die rustikalen, schmucklosen Möbel bildeten eine Einheit mit den Wänden. Und ein paar religiöse Nippesfiguren und einige hässliche, schlecht gebundene Bibeln vollendeten die triste, altmodische Atmosphäre. Doch ein köstlicher Bratenduft erfüllte das Wohnzimmer.
Eine korpulente Frau mit struppigem Haar erschien in einer Tür. Sie trug riesige Hausschuhe und eine Schürze mit einer Karikatur von Giscard, auf der zu lesen war: Rate mal, wer heute zum Essen kommt?
»Es duftet sehr gut, Jeanne«, sagte der Priester und lächelte die Frau freundlich an.
»Danke. Wird der Herr mit uns essen?«, fragte sie und deutete mit dem Kinn auf mich.
»Nein, nein«, wehrte ich ab, als der Priester mir einen fragenden Blick zuwarf. »Ich bleibe nicht.«
Die Frau nickte und kehrte schlurfend in die Küche zurück. Der Priester bedeutete mir, an dem großen Wohnzimmertisch Platz zu nehmen, verschwand in der Küche und kehrte kurz darauf mit zwei Tassen Kaffee zurück. Ich fühlte mich höchst unbehaglich und verschränkte die Hände auf der rotweiß karierten Tischdecke aus Plastik.
»Es tut mir Leid um das Haus Ihres Vaters«, sagte er schließlich und setzte sich mir gegenüber.
»Waren Sie schon einmal dort?« fragte ich, bemüht zu verstehen, woher er wusste, wer ich war.
»Ich habe ihm das Haus verkauft.«
Er sagte es, als handle es sich um ein Geständnis, um eine unverzeihliche Sünde. Als sei ich der Beichtvater und er der Sünder.
»Ich verstehe.«
Der Priester schaute mich an. Ich hätte schwören können, dass sein Blick Angst verriet.
»Hat er Ihnen verraten, weshalb er das Haus haben wollte?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte ich, und sah ihn aufmerksam an.
»Aha. Gefällt Ihnen diese Gegend?«
Ich runzelte die Stirn. Der Priester fühlte sich offensichtlich noch unbehaglicher als ich. Wir erlebten einen jener Augenblicke, in denen man nicht wusste, wohin man schauen und was man mit den Händen anfangen sollte.
»Ja«, erwiderte ich verlegen. »Ich habe zwar noch nicht viel gesehen, aber es ist sehr schön hier. Aber Sie wollten mir sagen, weshalb mein Vater …«
»Sie sollten die Steinhütten besichtigen«, fiel er mir ins Wort. »Sie sind sehr beeindruckend und befinden sich in einem Museumsdorf, das dreitausend Jahre alt ist.«
»Warum hat mein Vater das Haus gekauft?«, beharrte ich, weil ich merkte, dass er vom Thema abschweifen wollte.
Der Priester rieb sich verlegen die Hände.
»Dieses
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