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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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Kupferstiche sind ungeheuer vielschichtig und symbolisch, aber wie ich Ihnen bereits sagte, war er so freundlich, der Nachwelt erläuternde Notizen über seine Arbeiten zu hinterlassen. Melancolia ist der einzige Kupferstich Dürers, zu dem man nie die entsprechenden Notizen gefunden hat. Das ist zwar nicht unbedingt mein Spezialgebiet, aber ich habe nach den Telefongesprächen mit Ihrem Vater meine eigenen Recherchen dazu angestellt. Die Wissenschaftler Panofsky und Saxl haben die Existenz dieses erläuternden Textes, der angeblich ein komplettes Handbuch ist, erwähnt. Es soll Dürers Freund, dem Humanisten Pirkheimer gehört haben, bevor es verschwand.«
    »Aber wie, um Himmels willen, können Sie sich das alles merken?«, erklärte ich voller Bewunderung.
    »Das ist mein Beruf. Also, das Handbuch über den Kupferstich Melancolia dürfte das Manuskript sein, das sich im Besitz Ihres Vaters befand. Ich habe keine Ahnung, wie er es gefunden haben könnte.«
    »Beschreiben Sie mir bitte den Kupferstich.«
    »Er stellt einen Menschen mit Engelsflügeln dar, der mit melancholischer Miene in der Nähe eines kleinen Gebäudes sitzt. Um ihn herum befinden sich verschiedene Gegenstände. Das Bild ist schwierig zu beschreiben, weil es dermaßen plastisch und überladen ist.«
    »Diesen Kupferstich habe ich im Keller meines Vaters neben der Kopie der Mona Lisa gesehen. Wir müssen unbedingt in das Haus gelangen, vielleicht gibt es doch noch etwas in diesem verdammten Keller zu entdecken! Und dann wäre es besser, wenn es uns in die Hände fiele.«
    »Damien, das Haus ist versiegelt, und sicherlich wird es von der Polizei überwacht.«
    »Übertreiben Sie nicht, sie werden schließlich nicht Tag und Nacht dort sein! Immerhin ist es nur ein kleiner Brand gewesen. Und außerdem gehört das Haus mir! Ich habe also das Recht, es zu betreten!«
    Sophie lächelte.
    »Schlagen Sie eine kleine nächtliche Expedition vor?«, fragte sie maliziös.
    »Wollen Sie mich begleiten?«
    Sie seufzte. »Wir harren schon fast zwei Tage in diesem finsteren Haus aus. Wenn ich noch einen Tag länger bleibe, werde ich irgendwann die schmutzigen Vorhänge anzünden oder Ihr Handy zum Fenster rauswerfen. Ich hätte nichts gegen ein wenig Action einzuwenden«, bemerkte sie augenzwinkernd.
    In solchen Momenten war ich Frauen gegenüber einfach machtlos. Jeder dahergelaufene Bruce Willis hätte die Situation genutzt, um Sophie einen leidenschaftlichen Zungenkuss zu geben, nur ich begnügte mich damit, sie dümmlich anzulächeln und mir einzureden, dass sie keine Hintergedanken bei ihrer letzten Äußerung hatte. Ohne einen Tropfen Alkohol im Blut war ich unfähig geworden, eine Frau, und erst recht eine Lesbe, zu verführen. Meine amerikanischen Fans hätten mich sicherlich ausgebuht, wenn sie meine unerwartete Schüchternheit entdeckt hätten.
    Zweifellos haben sie keine Ahnung von dem, was alle Franzosen sehr genau wissen: Die, die am meisten darüber reden, tun es am wenigsten.
    *
    Gegen Ende des Vormittags hatte ich Lust, mir etwas die Beine zu vertreten und mir Gordes bei Tageslicht anzuschauen. Also beschloss ich, einen Stadtbummel zu machen. Sophie nutzte die Zeit und setzte ihre Nachforschungen über Dürer fort.
    »Seien Sie bitte vorsichtig«, sagte sie, als ich aus dem Haus ging.
    Ich ging munter den lang gestreckten Hang hinunter, der nach Gordes führte. Wenn man in das Städtchen kam, hatte man den Eindruck, einen Vergnügungspark zu betreten. Es sah so perfekt aus, als ob jede Nacht gute Geister die Mauern neu anstrichen und die Straßen reinigten, um diese fast unwirkliche Vollkommenheit zu bewahren. Auch die würdevollen Blicke seiner Bewohner verrieten, dass es sich um eine ganz besonders schöne Stadt handelte.
    Ich schlenderte durch die gepflasterten Hauptstraßen, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Ging an den Maklerbüros mit ihren Anzeigen für riesige Villen mit bläulichen Schwimmbecken vorbei, bewunderte die grauen Fassadenreihen der Häuser mit ihren orangefarbenen Dächern, und den weißen Felsen des Bergs, der hier und da durchschimmerte. Ich schlenderte in einen Laden und betrachtete die Postkarten, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Meine Gedanken waren woanders.
    Dann bummelte ich weiter durch die Straßen der Stadt, bis ich plötzlich vor der riesigen Kirche stand, die den Hauptplatz überragt. Ich blieb im Schatten der Bäume stehen und ließ mich von der Stille und dem Wind einlullen. Hier, an dieser Stelle, wo sich

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