Das Jesusfragment
Haus gehörte Chagall.«
Ich konnte mein Erstaunen nicht verbergen.
»Chagall?«
»Ja. Wie viele andere Maler lebte er in den vierziger Jahren in Gordes, bevor er in die Vereinigten Staaten auswanderte. Offiziell besaß er gemeinsam mit seiner Frau ein anderes, größeres Haus, aber heimlich hatte er noch ein weiteres gekauft – dieses.«
»Heimlich? Um dort seine Mätressen zu empfangen?«, vermutete ich lachend.
»Nein, natürlich nicht.«
»Aber warum sonst?«
»Ihr Vater hat Ihnen also nichts erzählt?«, erwiderte der Priester verblüfft und stellte seine Kaffeetasse auf den Tisch.
»Nein. Wir hatten keine Gelegenheit mehr, miteinander zu reden. Aber jetzt möchte ich alles darüber wissen. Im Keller habe ich lauter seltsame Dinge gefunden.«
Der Priester riss die Augen auf.
»Sie sollten das alles vergessen, junger Mann.«
»Was vergessen? Was wollen Sie damit sagen?«
»Ihr Vater hatte allerlei Hirngespinste. Das Haus gehörte Chagall, Ihr Vater bewunderte Chagall sehr und das ist ihm zu Kopf gestiegen. Er fing an, sich die merkwürdigsten Dinge einzubilden.«
»Aber was erzählen Sie da? Was im Keller war, hatte doch überhaupt nichts mit Chagall zu tun.«
»Vergessen Sie alles! Verkaufen Sie das Haus, kehren Sie in aller Ruhe nach Hause zurück, machen Sie nicht denselben Fehler wie Ihr Vater!«
Ich dachte, ich träumte. Die Worte des Priesters klangen so verworren. Er hatte immer schneller gesprochen und seine Stimme hatte dabei schrill geklungen.
Plötzlich erhob er sich und erklärte mit strenger Miene:
»Es tut mir Leid, aber ich muss jetzt die Messe vorbereiten. Darf ich Sie hinausbegleiten?«
Er sah verstört und ängstlich aus. Ich erhob mich ebenfalls. Ich hätte gern darauf bestanden, dass er mir mehr erzählte, aber ich wagte es nicht. Das seltsame Verhalten des Kirchenmannes hatte mich so überrascht, dass mir nichts mehr einfiel, was ich sagen könnte. Er begleitete mich bis auf die Straße, und noch bevor ich mich verabschieden konnte, schlug er die Tür hinter mir zu.
Einige Augenblicke blieb ich reglos auf dem Gehweg stehen und verspürte das unbändige Verlangen, die Tür einzuschlagen und den Priester zu zwingen, mir alles zu erzählen, was er wusste. Ich schüttelte ungläubig den Kopf und beschloss dann, lieber zurück zu Sophie zu fahren.
Eine halbe Stunde später aßen wir zusammen Mittag, und ich erzählte ihr die ganze Geschichte.
»Das ist wirklich seltsam«, räumte sie ein.
»Mein Vater war ein leidenschaftlicher Verehrer Chagalls. Aber deswegen gleich ein Haus in Gordes zu kaufen. Ich frage mich, was der Priester zu verbergen hatte. Er hatte Angst. Nackte Angst.«
»Auf jeden Fall haben wir jetzt eine neue Spur zu verfolgen: Chagall.«
Am frühen Nachmittag kam der Anruf, den wir schon voller Ungeduld erwarteten. Sophies Kontaktmann beim Verfassungsschutz hielt eine gute Nachricht für uns bereit. Er hatte herausgefunden, woher der geheimnisvolle Anruf gekommen war. Bevor er uns die Nummer verriet, erklärte er Sophie, dass sie nun quitt seien und sie nie wieder einen solchen Gefallen von ihm verlangen sollte. Sie erwiderte, dass sie eines Tages bestimmt wieder Reportagen über den Mittleren Osten machen müsse, und das genügte offensichtlich, um ihren Gesprächspartner auf seinen Platz zu verweisen. Ich weiß nicht, was zwischen ihnen geschehen war, aber Sophie hatte ihn eindeutig in der Hand. Er schien noch etwas zu erwidern, dann diktierte er Sophie einen Namen und eine Nummer, die sie auf unseren Notizblock kritzelte. Sie dankte ihm und legte auf.
»Bingo!«, strahlte sie voller Stolz.
»Und?«, fragte ich voller Ungeduld.
»Unser Freund von heute Morgen hat aus Rom angerufen, aber nicht aus der Redaktion von La Stampa . Der Anruf kam aus dem Büro einer Organisation namens Acta Fidei.«
»Was ist denn das schon wieder?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab Sophie zu und erhob sich. »Aber wir werden es bald wissen.«
Wir gingen wieder in den ersten Stock hinauf und setzten uns wieder vor meinen Computer, um zu recherchieren. Das war schon zu unserem Ritual geworden. Ich liebte es, wenn sie auf der Tastatur tippte, Seite um Seite das Internet durchsuchte, die Links anklickte, seufzte, strahlte, die wichtigen Infos zur Kenntnis nahm, ohne mir die Zeit zu lassen, alles zu lesen. Sie war dann ganz in ihrem Metier. Sie rauchte eine Zigarette nach der anderen, schob sie in den Mundwinkel, um die Hände frei zu haben, kniff die Augen
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