Das Jesusfragment
am häufigsten verwendete Schriftsprache, aber ein Teil der Originale müsste dennoch auf Aramäisch geschrieben worden sein. Das Ergebnis: Wenn man heute die verschiedenen Abschriften jener Zeit vergleicht, – jetzt halten Sie sich fest – findet man mehr als zweihundertfünfzigtausend Versionen. Die Entdeckung der Qumran-Rollen hat ergeben, dass unsere Fassung des Alten Testaments – auch wenn sie viel älter ist – dem Originaltext sehr viel näher ist als unser Neues Testament.«
»Wollen Sie damit sagen, dass das Neue Testament nicht zuverlässig ist?«
»Jedenfalls kann man absolut nicht sagen, inwieweit es den Originaltexten entspricht. Aber das ist noch nicht alles. Es geht auch darum, was die Kirche anerkennt und was sie nicht anerkennt. Das Evangelium des Thomas, das in Nag Hammadi gefunden wurde, und die Manuskripte vom Toten Meer sind nur zwei Beispiele für Texte, die die Kirche verunsichern.«
»Warum verunsichern sie sie?«
»Häufig wegen der Einzelheiten. War Jesus verheiratet? Hatte er Brüder? Dumme Fragen, die der Kirche nicht passen und aufgeblähte Pfarrer aufregen. Aber es gibt viel interessantere Fragen. Zum Beispiel: Wenn man die frühen Anfänge des Christentums untersucht, stellt man fest, dass die jüdische Sekte der Essener den ersten Christen am meisten ähnelt.«
»Die Verfasser der Manuskripte vom Toten Meer?«
»Unter anderem. In der Apostelgeschichte ist das Bild, das Lukas von den ersten Christen entwirft, seltsamerweise dem sehr ähnlich, das Philon später von den Essenern zeichnen wird. Zum Beispiel ihre Art, das Pfingstfest zu feiern. Selbst das Abendmahl, mit der Bitte um die Segnung des Brotes und dem Ausstrecken der Hände, eines der wichtigsten Symbole des Christentums überhaupt, ist die getreue Kopie einer Zeremonie der Essener. Auch die Auffassung von der Gütergemeinschaft ist bei den Essenern und den ersten Christen dieselbe. Barnabas zum Beispiel verkauft sein Feld und gibt das Geld den Aposteln. Die Essener waren sehr gebildet und hatten einen starken eschatologischen Glauben. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass die meisten von ihnen zum Christentum übertraten. Dennoch sind die Essener die Einzige der drei großen jüdischen Sekten, die mit keiner Silbe im Neuen Testament erwähnt wird. Ohne die Manuskripte vom Toten Meer, die Israel und die Kirche beinahe fünfzig Jahre lang verborgen hielten, wüssten wir nicht viel über sie. Verwirrend, nicht wahr?«
»Ja. Ich habe sowieso nie richtig begriffen, weshalb es so lange dauerte, bis die Manuskripte vom Toten Meer veröffentlicht wurden.«
»Petrus, Jakobus und Johannes besitzen im Evangelium einen herausragenden Platz. Zwölf Apostel, von denen drei besonders hervorgehoben werden. Stellen Sie sich nun vor, dass der Rat der Essener Gemeinschaft wie durch Zufall traditionell ebenfalls zwölf Mitglieder umfasste, davon drei Hohepriester.«
»Das wird tatsächlich immer verwirrender. Soll das heißen, die Kirche hätte versucht, den Essener Ursprung des Christentums zu leugnen?«
»Diese Frage stellt sich zu Recht. Ein weiteres Beispiel: die Bedeutung von Jakobus, nicht als Apostel, sondern als Bruder des Herrn. Ihrem Vater zufolge wird seine Rolle in der Bibel falsch wiedergegeben, vermutlich weil er zu einer Gruppe gehörte, der Lukas und Paulus feindlich gegenüberstanden. Im Evangelium nach Thomas ist Jakobus der Gerechte derjenige, zu dem die Apostel nach der Auferstehung gehen müssen. Klemens behauptet in seinen verblüffend plastischen Beschreibungen, dass Jakobus zusammen mit Johannes und Petrus die Gnosis des auferstandenen Christus erhalten habe. Und an dieser Stelle wird es interessant und führt zu Dürers Manuskript. Wissen Sie, was der Begriff Evangelium eigentlich bedeutet?«
»Nein«, musste ich zugeben.
»Er kommt aus dem Griechischen euaggelion , das bedeutet frohe Botschaft. Und worin besteht Ihrer Meinung nach diese frohe Botschaft?«
»Ich weiß nicht. Dass Jesus auferstanden ist?«
»Aber nein! Die frohe Botschaft liegt in der Lehre Christi. Das Problem besteht darin, dass Jesus unaufhörlich betont, dass er die frohe Botschaft bringe, sie aber nie deutlich in Worte fasst. Ansatzweise überbringt er die Botschaft vom Frieden, von der Liebe, sicher, aber das ist nicht die frohe Botschaft, die er ankündigt. Es ist, als ob immer etwas fehlte.«
»Ja, aber man muss es nicht übertreiben! Die Botschaft Christi ist bekannt, und das Mindeste, was man über sie sagen kann, ist,
Weitere Kostenlose Bücher