Das Jesusfragment
riefen mir zu umzukehren. Das Ganze aufzugeben. Ich hatte das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Und doch musste ich es wissen, und die Neugier half mir zu kämpfen.
Als ich an unsere Zimmertür klopfte, begriff ich, dass Sophie noch mit ihrer Übersetzung beschäftigt sein musste, da es recht lange dauerte, bis sie öffnete.
Als ich ihr von meinem Abenteuer berichtet hatte, zündete sie sich eine Zigarette an, lehnte sich an das Fenster und sagte langsam: »Na schön, es steht also fest, dass Acta Fidei die Hände im Spiel hat, und nun wird es ziemlich ernst.«
Das war offenbar der letzte Beweis, den Sophie gebraucht hatte, um sich davon zu überzeugen, dass wir nicht träumten. Der Rauch ihrer Zigarette zauberte einen zarten Vorhang vor ihr Gesicht, und ich konnte nicht erkennen, ob ihr Blick Angst oder Erregung verriet. Aber sie stand reglos und schweigsam da.
Ich betrachtete den Schreibtisch in unserem Hotelzimmer. Die Notizen meines Vaters lagen um Dürers Manuskript herum, und Sophie hatte mehrere Seiten eines großen Hefts voll geschrieben.
Ich ging zur Minibar und nahm mir einen Whisky.
»Ich brauche jetzt unbedingt einen Drink. Wollen Sie auch einen?«, fragte ich und wandte mich Sophie zu.
Sie winkte ab. Ich setzte mich seufzend vor den Schreibtisch und warf einen Blick auf ihre Notizen.
»Wie ich sehe, sind Sie gut vorangekommen.«
Sie ließ sich mit einer Antwort Zeit, als müsste sie zuerst die letzten Nachrichten von der Front verarbeiten.
»Ja, ich bin gut vorangekommen. Und ehrlich gesagt, habe ich den Eindruck, dass ich träume. Ich frage mich, in was für ein Wespennest wir gestochen haben, Damien. Das hier ist wirklich eine verrückte Geschichte.«
»Erzählen Sie«, drängte ich sie.
Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher ihres Nachttischs aus und setzte sich neben mich auf die Lehne meines Sessels. Ich trank einen Schluck Whisky und sie begann zu reden.
»Ich bin erst am Anfang. Aber der ist schon nicht übel. Durch Dürers Manuskript habe ich mehr über den Stein von Iorden herausfinden können. Und die Notizen Ihres Vaters haben mir dabei viel geholfen. Passen Sie gut auf, das Ganze ist ein wenig kompliziert.«
»Ich höre.«
»Das Wichtigste – und das erklären vor allem die Notizen Ihres Vaters – ist zunächst einmal die Tatsache, dass es kein einziges zeitgenössisches Dokument gibt, das die Existenz Jesu erwähnt.«
»Das heißt?«
»In den historischen Schriften seiner Zeitgenossen wird Jesus nie erwähnt. Abgesehen von den Evangelien stammt die älteste Erwähnung von Plinius dem Jüngeren aus dem Jahre 112, also ungefähr achtzig Jahre nach Christi Tod.«
Sie schwieg und warf einen Blick auf ihre Notizen. Sie hatte eine Art, beim Reden den Bügel ihrer Nickelbrille hochzuschieben, als sei sie eine Geschichtsstudentin, die stolz auf ihre Forschungsergebnisse war.
»Im Jahre 125«, fuhr sie fort, »erwähnt ihn Minucius Fudanus in einem Bericht über Kaiser Hadrian. Aber Josephus Flavius, einer der zuverlässigsten Historiker jener Zeit, kannte nicht einmal die ersten Christen. Kurzum, außer den historischen Schriften von Plinius dem Jüngeren sind die einzigen Dokumente, die man über Jesus und die Anfänge des Christentums besitzt, religiöse Texte, in erster Linie die Evangelien, die jedoch fünfzig bis achtzig Jahre nach Christi Tod entstanden, die Apostelgeschichte und die Briefe des heiligen Paulus aus noch späterer Zeit. Alles in allem nichts Zeitgenössisches.«
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Warten Sie, der letzte wichtige Punkt in den Notizen Ihres Vaters betrifft die Geschichte des Neuen Testaments. Eine bewegte Geschichte aus gewagten Übersetzungen, abgeschwächten Abschriften und willkürlichen Verkürzungen in den ersten Jahrhunderten, als der Text nicht immer mit den Vorstellungen der Kirche vereinbar war. Das Neue Testament festigte sich erst im Laufe mehrerer Jahrhunderte.«
»Das ist eine lange Zeit.«
»Das kann man wohl sagen. Die Evangelien wurden im Ursprung entweder von den Verfassern selbst oder von Schreibern auf Papyrusblätter geschrieben, die anschließend zusammengerollt oder zu einem Kodex zusammengefasst wurden. Kein Einziges dieser Originale ist uns bekannt. Wir besitzen heute lediglich einige Fragmente von Abschriften aus dem zweiten Jahrhundert, und die einzige vollständige Abschrift des Neuen Testaments, die wir haben, stammt aus dem Jahr 340. Sie ist zudem komplett in Griechisch. Zu Zeiten Jesu war Griechisch zwar die
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