Das Jesusfragment
herunterzuhelfen.
Am Ende der Sackgasse entdeckte ich mit großer Erleichterung einen marineblauen Renault Safrane.
»Schnell, wir müssen in den Wagen dort hinten einsteigen«, erklärte ich Claire.
Die junge Frau begann zu laufen.
In diesem Augenblick fiel wieder ein Schuss. Die Kugel prallte vor uns gegen eine Mauer aus rotem Ziegelstein. Ich blickte hoch. Am Fenster stand ein Mann und zielte mit einem Revolver direkt auf mich.
Die hintere Tür des Safrane wurde geöffnet. Nur noch ein paar Meter. Ich rannte weiter. Claire sprang in den Wagen. Sie schrie vor Angst. Noch ein Schuss. Mit einem Hechtsprung fiel ich auf die Rückbank des Wagens und schloss rasch die Tür. Die Reifen knirschten auf dem Asphalt, als der Wagen sofort losfuhr, und das Heck rutschte nach rechts weg.
Dann bogen wir in die Rue de Vaugirard ein.
»Gutgemacht!«, sagte der Chauffeur ohne sich umzudrehen. »Hier, Monsieur Chevalier möchte Sie sprechen.«
Er reichte mir den Hörer des Autotelefons. Ich warf Claire einen Blick zu. Sie schien sich etwas zu beruhigen und hielt sich mit schmerzverzerrter Miene die Schulter.
»Damien?«, rief François am anderen Ende der Leitung.
»Ja!«
Ich war außer Atem und das Blut hämmerte in meinen Schläfen.
»Bist du verletzt?«
Ich betrachtete meine blutigen Hände.
»Ein bisschen, aber vor allem die junge Frau, die bei mir ist. Sie hat eine Kugel in der Schulter.«
»Wer ist sie? Das Mädchen, mit dem du …«
»Nein, nein, ich werde es dir später erklären.«
»Ja, natürlich. Ich gehe jetzt nach Hause. Sag Stéphane, dass er euch direkt dorthin fahren soll. Ich werde Estelle Bescheid sagen. Haltet durch, sie kann euch versorgen.«
»Einverstanden. Danke …«
»Bis gleich!«
Er legte auf.
Ich gab dem Chauffeur den Hörer zurück.
»François erwartet uns in Sceaux«, erklärte ich ihm.
Er nickte. Der Mann war um die dreißig. Ein Schwarzer mit breiten Schultern, wie die eines Boxers, doch war er so groß wie ein Basketballer. Er hatte einen rasierten Schädel, kleine dunkle Augen und herbe Gesichtszüge. Das Äußere eines Killers, aber ein Killer, der uns gerade das Leben gerettet hatte! »Unter Ihrem Sitz gibt es einen Verbandskasten«, sagte er, als er den Hörer entgegennahm.
Ich bückte mich und griff nach dem kleinen weißen Kasten. Als ich den Kopf hob, bemerkte ich, dass Claire das Bewusstsein verloren hatte.
Ich versuchte, nicht in Panik zu geraten, sondern nahm aus dem Verbandskasten, was ich brauchte, um ihre Wunde so gut es ging zu verbinden.
Draußen glitten nacheinander die Straßen an uns vorbei. Der Chauffeur fuhr aus Paris hinaus.
In meinem Kopf wirbelten die Bilder durcheinander. Wieder einmal war ich knapp dem Tod entronnen.
Neun
D as Einfamilienhaus, in dem François und Estelle Chevalier wohnten, sah ganz und gar englisch aus. Auf der Anhöhe von Sceaux, in einer langen, von Bäumen und Sträuchern gesäumten Straße stand es umgeben von ähnlich schmalen Häuser aus rotem Ziegelstein. Die weißrote Fassade hinter einem bescheidenen Vorgarten erinnerte an die viktorianischen Häuser in Londoner Vororten. Hinter dem Haus musste es noch einen größeren Garten geben.
Die Straße wirkte verschlafen und ruhig. Doch in der Stille dieses feinen Vororts dröhnte mir immer noch das unwirkliche Echo der Schüsse in den Ohren. Meine geballten Fäuste lockerten sich erst, als ich François in dem kleinen Flur erkannte.
François Chevalier. Er hatte sich nur unmerklich verändert. Gut, er war etwas fülliger geworden. Aber er besaß immer noch sein typisches, aufrichtiges Lächeln, das von innen kam, das überwältigende Charisma seiner ein Meter neunzig. Als ich ihn kennen lernte, trug er seine eleganten Anzüge bereits so selbstverständlich, als sei er in einem von Yves Saint-Laurent geboren worden. Die anderen Schüler des Chaptal-Gymnasiums hielten uns damals für Außerirdische. Ich mit meinen langen Haaren und schmutzigen T-Shirts, er mit seinen Anzügen und seiner Taschenuhr. Ich war der etwas linkische Rebell und er der hübsche Junge, voller Charme, in dessen Augen der Erfolg leuchtete. Hinter einem kleinen Funken Bosheit. Er nahm mich in die Arme, drückte mich heftig, begrüßte Claire Borella und führte uns an der Treppe vorbei in einen kleinen Fernsehraum, wo uns der willkommene Komfort eines riesigen Sofas erwartete. Ich glaube, dass François mit mir redete, aber ich hörte ihn nicht wirklich. Der Schock schien erst jetzt einzutreten und
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