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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henri Loevenbruck
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gegenüberliegende Zimmer. Dann fiel wieder ein Schuss und wir warfen uns rasch zur Seite. Die Kugel schlug mindestens einen Meter von uns entfernt in einen Schrank ein. Wir hatten uns aus der Schusslinie gebracht und befanden uns jetzt in einem kleinen Arbeitszimmer mit einer zweiten Tür zur Linken.
    Claire kauerte an der Wand, während ich zum Fenster kroch und mich hochzog, um hinauszuschauen. Langsam reckte ich den Kopf hinter der Scheibe empor. Ich hatte große Angst. Vielleicht gab es auf dieser Seite noch einen Schützen. Rechts von mir konnte ich keine Treppe erkennen. Ich lehnte mich zur anderen Seite hinaus. Und dort, zwei Fenster weiter, entdeckte ich die Metallleiter, die nach unten führte.
    Ich trat beiseite, richtete mich auf und öffnete die Tür auf der linken Seite des Zimmers. Vorsichtig betrat ich den Raum und näherte mich dem Fenster, den Rücken an die Wand gepresst. Wir würden ein Stück klettern müssen, was kein Vergnügen für jemanden wie mich war, der unter Höhenangst litt. Aber das war immer noch besser als eine Kugel in den Kopf gejagt zu bekommen.
    In diesem Moment hörte ich dumpfe Geräusche an der Eingangstür. Jemand versuchte, die Tür einzuschlagen. Die Zeit wurde knapp.
    Ich öffnete das Fenster und gab Claire ein Zeichen, zu mir zu kommen. Sie zögerte, aber der Lärm an der Tür ließ sie nicht lange überlegen. Sie setzte ein Bein nach draußen. Die Treppe war zwei Meter weit entfernt am Aufzugschacht des Nebengebäudes installiert. Auf halber Höhe des Fensters gab es ein Sims. Es war nicht sehr breit, aber breit genug, um die Füße darauf zu setzen. Ich half Claire, sich hochzuziehen und hielt mich dabei immer noch an dem Fensterrahmen fest. Die junge Frau stieß einen Schmerzenslaut aus. Ihre Schulter musste schrecklich weh tun.
    Die dumpfen Schläge am Eingang wurden immer heftiger. Bald würde die Tür nachgeben. Meine Hände fingen an zu schwitzten. Ich kletterte mit zitternden Beinen aus dem Fenster, hielt mich dicht an die Mauer des Hauses gepresst, und bemühte mich, nicht in die Tiefe unter mir zu schauen. Langsam ließ ich meinen rechten Fuß zur Leiter gleiten. Dann den linken. Ganz allmählich entfernte ich mich von dem Fensterrahmen. Nur der geringste Fehltritt, und wir wären ins Leere gefallen. Mit der linken Hand hielt ich mich am Fensterrahmen fest, meinen rechten Arm streckte ich so weit wie möglich aus, und legte meine Hand schützend auf Claires Hüfte.
    »Gehen Sie ganz vorsichtig«, sagte ich mit angehaltenem Atem. »Einen Fuß nach dem anderen. Die Leiter ist ganz nah. Fassen Sie nach dem Geländer, sobald Sie können.«
    Sie kletterte voran, und ich folgte ihr. Dann musste ich den Rahmen loslassen. Ich krallte die Finger meiner linken Hand an die Mauer, dann hatte ich für einen Moment keinen Halt mehr. Ich konnte kaum atmen, so groß war meine Angst. Ein Schritt. Dann noch einer. Langsam näherten wir uns der rostigen Leiter, und das Geländer würde in Claires Reichweite sein. Der Wind pfiff mir um die Ohren.
    »Los, strecken Sie die Hand aus.«
    »Ich habe zu viel Angst«, erwiderte sie heulend.
    Ich rückte näher zu ihr heran.
    »Ich werde Sie halten, das schaffen Sie ohne Risiko.«
    Das war eine Lüge. Wir riskierten beide unser Leben, nicht mehr und nicht weniger. Sie streckte den Arm nach dem Geländer aus. Fast hätte sie durch diese Bewegung das Gleichgewicht verloren, und vor Schreck presste sie sich wieder an die Wand. Sie holte tief Luft, tat einen kleinen Schritt nach rechts und versuchte es noch einmal. Sie streckte den Arm aufs Geratewohl aus, doch hatte sie immer noch viel zu viel Angst, sich umzudrehen.
    »Höher«, flüsterte ich. »Halten Sie den Arm höher.«
    Plötzlich spürte sie das Metall unter ihren Fingern.
    Endlich. Sie umklammerte das Geländer und machte die letzten Schritte auf dem Sims, bevor sie auf die Treppe sprang. Das metallische Geräusch hallte im Hof des Gebäudes wider. Ich folgte ihr.
    Die dumpfen Schläge im Innern der Wohnung waren verstummt. Die Tür musste nachgegeben haben.
    Claire begann so schnell wie möglich, die Stufen hinunterzuklettern.
    Mir war schwindelig, aber ich hielt mich am Geländer fest, um nicht zu fallen. Wir kletterten in aller Eile die sechs Stockwerke hinunter, ohne uns auch nur einmal umzudrehen. Als nur noch wenige Stufen übrig waren, sprang ich seitlich über das Geländer und landete auf dem Gehweg der Sackgasse, direkt vor Claire. Ich reichte ihr die Hand, um ihr

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