Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Kabinett der Wunder

Titel: Das Kabinett der Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Rutkoski
Vom Netzwerk:
ihrer Familie zu der Zeit schon bei ihnen gelebt, hätte sie der Freiheit der Tiere mit Sicherheit ein schnelles Ende bereitet. Doch da war nur die siebenjährige Petra, die über die dummen Streiche der Spielsachen vor Lachen brüllte. Und ihr Vater hatte von dem Ganzen kaum etwas bemerkt. Erst als ein armes Kaninchen verloren ging und sie es zwischen den Zahnrädern eines Models für eine Landmaschine eingeklemmt und halb verhungert fanden, entschied ihr Vater, dass die Tiere nachts in einen Käfig eingeschlossen werden mussten. Spielen durften sie nur in der Werkstatt und
nur während des Tages, wenn sie jemand im Auge behalten konnte.
    Astrophil war die Ausnahme von der Regel. Aber schließlich war er die Ausnahme fast jeder Regel.Von Geburt an benahm er sich gut. Und auf seine guten Manieren legte er großen Wert. Er lernte sehr schnell Tschechisch und sprach schon in vollständigen Sätzen, als er erst wenige Tage alt war. Er blieb das einzige von ihrem Vater geschaffene Haustier, das lesen lernte. Astrophil suchte sich Bücher aus allen Genres und Wissensgebieten aus, von Poesie bis darüber, wie man Türkischen Honig herstellt. Petra machte sich oft darüber lustig, dass er voller überflüssiger Informationen steckte. Doch während er viele Sachen lernte, die Petra niemals lernen würde, lernte er nie zu schlafen. Die meisten Tiere fingen, wenn sie ungefähr zwei Jahre alt waren, langsam an, jeweils für ein paar Minuten am Tag wegzudösen. Rund ein Jahr später waren sie dann in der Lage, die Nacht durchzuschlafen. Doch Astrophil, der etwa sechs Jahre alt war, zeigte nicht mehr Anzeichen, als ab und zu einmal zu blinzeln.
    Petra machte den Laden sauber, um ihn für das Tagesgeschäft vorzubereiten, und staubte die Arbeiten ihres Vaters ab: Pferdegebisse und Pflüge, kunstvoll graviertes Silberzeug, eine Sammlung von Spieluhren, Kompasse, Sternenhöhenmesser und Uhren, die alle gerade anfingen, zehn Uhr zu schlagen. Es war schon etwas spät, um den Laden aufzumachen. Ditas Mann Josef war bestimmt schon vor Stunden zu seiner Arbeit in den Rapsfeldern aufgebrochen. Bald würde auch Petra die Ladentür zur Straße
öffnen. Sie hoffte, ein paar Dinge zu verkaufen. Aber am meisten hoffte sie, dass ihr Freund Tomik vorbeikäme.
    Obwohl es ziemlich unwahrscheinlich war, dass Petra bei dem ganzen Lärm in der Werkstatt das Schlurfen von Füßen hören konnte, tat sie es doch. Sie drehte sich um und sah David, Ditas Sohn. Er war ein paar Jahre jünger als Petra. »Stella!«, rief er.
    Der Zinnrabe flog wie ein schimmernder Schatten durch den Laden, ließ sich auf der Schulter des Jungen nieder und pickte zart mit dem Schnabel in Davids lockigen Haaren herum.
    »Neureiche Krähe«, brummte Astrophil.
    »Ich bin ein Rabe!«, krächzte Stella beleidigt zurück.
    Es war sehr deutlich, dass der Rabe keinerlei Interesse daran hatte, an jemanden aus Okno oder an einen reisenden Kaufmann verkauft zu werden, der sich von den schimmernden Federn des Raben bezaubern ließ. Stella gefiel das Leben im Haus zum Kompass recht gut, und sie hatte David, der ihr jetzt den Kopf streichelte, mit der Zeit immer lieber gewonnen.
    »Mutter wollte, dass ich nachsehe, ob du endlich aufgestanden bist.« Der Junge äffte Ditas ärgerliche Stimme nach. »Sie will wissen, ob du deiner allereinzigsten Aufgabe im Haus nachkommst.«
    »Also das tue ich doch ganz offensichtlich.«
    »Also du kannst ganz offensichtlich keine Kunden im Nachthemd empfangen.«
    Petra wollte etwas Unverschämtes erwidern, doch der Junge fing an, laut zu singen, wobei sein Blick im Laden
umherschweifte. » Oh, sie ist ein schönes Mädel, trotz dem wüsten Wuschelschädel, doch immer noch im Nachtgewand, das ist doch wirklich allerhand! «
    Der Rabe krächzte.
    » Oh, sie ist … «
    »David, sei still!«
    » … ein schönes Mädel … «
    »Hör auf!«
    Das tat er, denn er merkte, dass sie gar nicht länger ihn ansah, sondern besorgt aus dem Fenster blickte. »Was ist?«, fragte er. Er sah einen Karren mit zwei Männern in zerlumpter Kleidung.
    »Ich weiß nicht genau.« Als Petra die Tür aufstieß, kletterte ihr Astrophil in die Haare, klammerte sich an eine verfilzte Locke und sah dabei aus wie eine Haarklammer in Form einer Blume mit acht Blütenblättern. Die Tiere stürmten erwartungsvoll auf die offene Tür zu, doch David sprang hin, um sie aufzuhalten. Dann drängte er sie in den Käfig zurück.
    Die Männer stiegen vom Wagen, der eine von ihnen lachte. Der

Weitere Kostenlose Bücher