Das Kabul-Komplott - Bannel, C: Kabul-Komplott
plötzlich ein Bedürfnis verspürte, oben auf dem Hügel über dem Dorf zu beten, dort, wo er einen großartigen Blick über die ganze Umgebung hatte. Als er dort ankam, hatte sich der Morgendunst aufgelöst, und die Sonne warf ihr Licht auf die nackten Berge, die sich orange und grau färbten. Eine herrliche Landschaft, schweigend betrachtete er sie; er empfand ein Gefühltiefer Dankbarkeit. Allah hatte diese Schönheit geschaffen, wie schade, dass die Afghanen sie nicht einfach genießen konnten, in Frieden. Bald würde er nach Kabul zurückkehren und Wali Wadis CD lesen. Da er diese Informationen nicht aufbewahren konnte, ohne sein Leben aufs Spiel zu setzen, würde er sie dem Justizministerium überantworten oder sie sogar im Internet veröffentlichen: Sobald die Daten aller Welt zugänglich waren, durfte er sich in Sicherheit wiegen. Er dachte an Mullah Bakir, der diese Informationen haben wollte, an die Westler, die versucht hatten, ihn dafür zu töten. Er musste wissen, was sich auf der CD befand, vorher konnte er nichts unternehmen und auch keine Konsequenzen in Betracht ziehen.
Während er zum Beten niederkniete, bemerkte er eine Bewegung in der Ferne. Er kniff die Augen zusammen. Es waren die Silhouetten von bewaffneten Männern, die durch die Berge zogen. Sie mussten an die zwanzig sein, einige zu Fuß, andere zu Pferd. Vielleicht sogar fünfundzwanzig. Nur die Taliban waren imstande, sich so im Gebirge fortzubewegen, zu Fuß und zu Pferd. Osama verspürte ein leichtes, aber deutliches Unbehagen. Sogleich rollte er seinen Gebetsteppich zusammen und sprang den Hang hinab, um zurück ins Dorf zu gelangen. Rangin war dabei, sich das Gesicht mit dem Wasser aus seiner Feldflasche zu waschen.
»Was ist los?«, fragte er, alarmiert von Osamas Nervosität.
»Eine Gruppe bewaffneter Männer, weniger als eine Stunde Fußmarsch von hier entfernt. Sie haben Pferde, wir müssen fort von hier. Wo ist Abdullah?«
»Der schläft noch.«
»Weck ihn auf, wir fahren auf der Stelle los.«
Osama begab sich auf die Suche nach ihrem Gastgeber. Er fand ihn hinter dem Haus, bei der Verrichtung seiner Notdurft.
Osama räusperte sich. »Die Straße ist nicht sicher in Richtung Osten«, verkündete er nach einer höflichen Pause. »Ichhabe eine Gruppe Männer dort gesehen. Wir müssen sofort in eine andere Richtung aufbrechen.«
Osama rief sich die Landkarte in Erinnerung, die er in Kandahar zusammen mit Officer Kukur studiert hatte. Im Südwesten der Gegend, in der sie sich augenblicklich befanden, lag eine belutschische Zone. Dorthin würden ihn die paschtunischen Taliban nicht verfolgen.
»Wie kommt man nach Südwesten«, fragte er schließlich, »zur belutschischen Zone? Gibt es einen Weg, den man mit dem Auto befahren kann?«
Der Anführer überlegte.
»Es gibt eine Schotterpiste vom Dorf aus, dort unten. Folgt ihr zwei Stunden lang. Dann kommst du zur Kuppe eines Hügels, dem höchsten weit und breit. Anstatt wieder ins Tal hinunterzufahren, musst du rechts in Höhe des Hügels weiterfahren. Vielleicht trägt der Weg deinen Wagen, vielleicht auch nicht. Nach einem halben Tag Fahrzeit gelangst du zu einem weiteren Kamm, noch höher als der vorherige, du wirst ihn erkennen, man nennt ihn die blaue Hügelkette. Hütet euch vor den Minen, die Russen haben Hunderte in diesen Bergen abgeworfen. Springminen und Spielzeugminen, viele Männer, Frauen und Kinder kamen durch sie um. Nach dem Hügelkamm folgt eine Hochebene. Dort leben die Belutschen, aber seid vorsichtig, sie kennen nicht die Gastfreundschaftder Paschtunen. Wie es heißt, schlitzen sie Fremden, die sich verirrt haben, die Kehle auf.«
»Wir werden uns schon durchschlagen«, sagte Osama.
Wenig später holperten sie über eine Schotterpiste, noch schlimmer als die auf der Hinfahrt, der Toyota konnte sich nur im Schritttempo vorwärtsbewegen.
»Was meinte er genau, als er uns vor den Springminen warnte?«, fragte Rangin. »Und was sind Spielzeugminen? Ich dachte, alle Minen funktionieren nach dem gleichen System.«
»Springminen sind spezielle Minen, die die Russen gegen Ende des Kriegs abgeworfen haben«, erläuterte Osama. »Siesind durch Wind und Wetter von Staub und Sand bedeckt, bleiben aber lange Zeit aktiv. Wenn man drauftritt, werden sie von einer Feder in die Luft geschleudert und explodieren. Anstatt einem das Bein abzureißen, bohren sich die Splitter in Kopf und Brust. Die Spielzeugminen sind Modelle im Taschenformat aus farbigem Plastik, die
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