Das Känguru-Manifest
du hättest was anderes runtergeladen. Etwas, das den Ärger mehr lohnt.«
»Ich hab auch euer neues Album 6 runtergeladen«, sagt das Känguru.
»Was?!?«, rufe ich empört. »Damit entziehst du uns ja komplett unsere Lebensgrundlage! Jeder von der Band bekommt pro im Handel für den vollen Preis verkaufter CD fast zwanzig Cent! Wie sollen wir denn ohne diese zwanzig Cent leben können?!?«
Wir fangen beide an zu lachen.
»High five!«, sagt das Känguru, und wir klatschen ab.
»Dabei könnte das Internet für euch Künstler extrem befreiende Wirkungen haben«, sagt das Känguru kopfschüttelnd, »aber ihr steckt mit eurer Denke noch genauso in den alten überkommenen Strukturen fest wie die Bosse der Entertainmentindustrie, die durch massive Lobbyarbeit verhindern, dass gesetzliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen sich das befreiende Potential der Technologie entfalten könnte, ohne dass die Künstler deswegen am Hungertuch nagen müssten. Und es ist kein Wunder, dass der Apparat mit einer solchen Aggressivität zurückschlägt. Er möchte um jeden Preis verhindern, dass irgendjemandem auffällt, wie überflüssig er ist in Zeiten, in denen eine direkte, drahtlose Verbindung zwischen Künstler und Publikum möglich ist. Und du, mein Freund, du warst nur zu faul, dein neues Album …«
»Wie fandstes eigentlich?«, frage ich.
»Dein Album?«, fragt das Känguru.
»Nee, Feuchtgebiete .«
»Ich hab’s natürlich nicht angehört«, sagt das Känguru. »Ich habe nichts von dem angehört, was ich runtergeladen habe. Wann denn auch? Wenn ich mal ’ne freie Minute habe, muss ich ja neue Sachen runterladen.«
Ich kicke den Brief in Richtung Mülleimer.
»Hast du dir überlegt, was du in der Sache unternehmen möchtest?«, fragt das Känguru.
»Ich werde den klassischen Problemlösungsweg gehen«, sage ich. »Ich denke einfach nicht weiter darüber nach.«
»Verstehe«, sagt das Känguru. »Ohne diese faszinierende Taktik wäre hier schon längst alles zusammengebrochen.«
»Ich wende sie sehr oft an«, sage ich. »Jedes Mal, wenn ich Nachrichten höre. Jedes Mal, wenn mich etwas verstört. Jedes Mal, wenn du etwas sagst. Jedes Mal, wenn ich etwas verbockt habe.«
»Schön, dass das für dich funktioniert«, sagt das Känguru.
»Es funktioniert nicht.«
6 http://rapidshare.com/files/4815162342/marc-uwekling_und_die_gesellschaft.rar. Anm. des Kängurus
Des Abends laufen wir an einer Kirche vorbei, an deren Wand jemand »Religion hat Tausende von Menschen getötet!« gesprayt hat.
»Ts, ts, ts, ts, ts«, sagt das Känguru und schüttelt seinen Kopf. »Ist das nötig? So was muss doch nicht sein.«
Es holt eine rote Spraydose aus seinem Beutel, streicht »Tausende« durch und schreibt »Millionen« darüber. »Leichtsinnsfehler …«, murmelt es.
»Und ich habe mich schon gefragt, was das für ein Typ ist, der jedes Graffito in unserem Block mit Rot überschmiert«, sage ich.
»Nicht überschmiert«, sagt das Känguru. »Korrigiert. Verbessert! Die Leute machen so viele Fehler … Das glaubst du nicht. Inhaltlich. Formal. Rechtschreibung. Kommunismus mit einem M! Von der Zeichensetzung will ich gar nicht reden.«
»Und was sollen diese Korrekturen bringen?«, frage ich.
»Komm mit, Piggeldy«, sagt das Känguru und trottet los.
Zwei Straßen weiter zeigt es mir einen schwarzen »Nazis raus!«-Schriftzug an der Wand.
Mit Rot steht daneben: »Deine Einstellung ist grundsätzlich löblich und deine Absicht zumindest verständlich. Aber da du forderst ›raus‹, stelle dir doch bitte auch die Fragen: Wo raus? Und wohin? Raus aus Deutschland? Schön und gut. Aber wohin? Denn wer will die schon haben? Keiner! Es hat dem Ausland verständlicherweise keineswegs gefallen, als die Nazis das letzte Mal in großer Zahl aus Deutschland rausmarschierten. Schließlich musst du noch bedenken, dass die Nazis dann plötzlich selber Ausländer wären, und wenn du die dann immer noch hassen würdest, wärst du dann selber Nazi? Und müsstest du dann selber raus? Und wo raus und wohin? Du hättest also genauso gut schreiben können: ›Selber!‹ Auf diesem Kindergartenniveau bewegt sich leider deine Argumentation.«
Die komplette Wand ist vollgeschmiert.
»Und das hilft?«, frage ich.
Ich werde zwei Ecken weiter geführt. Dort steht mit Schwarz an der Wand: »Nazi! Bedenke! Du suchst dir für deine Probleme Sündenböcke, dabei bist in Wahrheit du selbst das Problem. Du und das System
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