Das Kainsmal
Bremslichter des pissgelben Wagens leuchten auf, als er langsamer wird, um rechts abzubiegen. Kurz ist das Reh außer Sicht, bis ich dann selber um die Kurve bin. Und da, in einer stillen Seitenstraße, keine Passanten, keine Polizei, mache ich die Augen zu und - krawumm.
Das Geräusch, dieses Geräusch habe ich immer noch im Kopf. Es ist da wie eingefroren. Ich wünsche nur, ich hätte die Jagd und den Aufprall damals aufgezeichnet, aber auch so werde ich das nie vergessen.
Mein Kühler hat sich so tief in sein Heck gebohrt, dass das Reh sich vom Dach löst. Die Halteseile sind zerfetzt, der Leib des Tiers ist aufgeplatzt. Ungefähr in Höhe des Bauchs ist er auseinandergerissen. Und innen drin, statt Blut und Gedärmen, ist das Reh - weiß. Nichts als weiß.
Der Fahrer stößt die Tür auf und steigt aus. Er hat einen Bart, und seine gepolsterte Tarnjacke ist dick aufgeplustert. Die Ohrenklappen seiner Mütze flattern, als er auf mich zukommt.
Ich sage: »Das verfluchte Vieh ...« Ich sage: »Das ist nicht echt.«
Und der Mann sagt: »Natürlich ist das nicht echt.« Ich sage: »Ist das aus ... Styropor?«
Das Reh ist eine lebensgroße Attrappe, wie sie von Bogenschützen als Zielscheibe benutzt wird.
Und der Jäger sagt: »Wo hast du deine verdammte Flagge?« Er geht um mein Auto herum nach hinten, sieht sich das Nummernschild an und sagt: »Das war ein Foul, und das werde ich melden - keine Flagge, und der Aufprall viel zu stark - das sind gleich mehrere Fouls auf einmal.«
Canada Mercer: Wir sind nie dazu gekommen, mit Fesselspielen und Polizeiuniformen zu experimentieren. Vor Weihnachten fragten wir Echo, was der Weihnachtsmann ihr bringen soll, und sie sagte: »Einen Dildo zum Fisten.« Stattdessen legten wir mit den Tyson-Neals und einigen anderen Paaren zusammen und kauften ihr ein Auto. Offenbar war sie eine sehr schlechte Fahrerin.
Echo Lawrence: Diese beschissenen blonden Strähnchen. Ich konnte es kaum erwarten, dass die wieder rauswuchsen.
Sarah Mercer: Der Appetit auf Remouladensauce ist mir seither gründlich vergangen.
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Eine Geschichte
Aus den Aufzeichnungen von Green Taylor Simms (n© Historiker): Ich für meine Person nehme aus einem ganz einfachen Grund an Crash-Partys teil: Mein Leben ist mir lieb und teuer. Ich liebe meine Freunde und meine Familie. Ich bin froh, bei guter Gesundheit zu sein und über einen zwar alternden, jedoch agilen Körper und einen regen Geist zu verfügen.
Ich halte mich für einen vom Glück außerordentlich begünstigten Menschen, aber Unfälle geschehen nun einmal. Jahr für Jahr werden in diesem Land annähernd sechzehntausend Menschen ermordet. Im selben Zeitraum kommen bei Verkehrsunfällen etwa dreiundvierzigtausend Menschen ums Leben.
Wann immer ich mich ans Steuer eines Autos setze, ist mir bewusst, dass mir all dies von einer Sekunde auf die andere genommen werden kann, einfach so. Während einer Autofahrt zischt im Sekundentakt und nur eine Handbreit entfernt der Tod an einem vorbei. Jedes auf der Gegenspur nahende Fahrzeug kann mich einer Folter unterwerfen, die grausamer und schmerzhafter ist als alles, wozu sich die Diktatoren dieser Welt jemals herablassen würden. Vielleicht hat ein Fahrer sein Leben lang nichts anderes als Hamburger gegessen, und während sein Wagen sich dem meinen nähert, versagt sein verstopftes Herz. Blind vor Schmerz umklammert er seine stechende Brust. Sein Fahrzeug schert aus, kollidiert mit mir und schleudert mich in ein anderes Auto, einen Tanklastwagen, in die Leitplanke, einen Abhang hinunter.
Obwohl ich mein Leben lang kalorienreiche Nachspeisen gemieden habe, jeden Abend gejoggt bin und überhaupt stets auf Mäßigung und Selbstdisziplin bedacht war - klemme ich nun hilflos in einem Kokon aus Stahl und Aluminium. Mein Körper ist übersät mit tausend Wunden von umherfliegenden Glassplittern. Mein cholesterinarmes Blut spritzt in heißen Fontänen aus mir hervor.
Trotz aller Vorsorge sind das Herzinfarktopfer und ich jetzt beide tot.
Unfälle geschehen nun einmal.
Echo Lawrence ging zu den Crash-Partys, um mit ihrer Vergangenheit fertigzuwerden. Mr. Dunyun, um etwas Reales zu erleben, nachdem er immer nur Highlights aus dem Leben anderer Leute geboostet hatte. Und Rant Casey, vermute ich, weil er einfach Leute treffen wollte. Ich ging zu den Crash-Partys, weil Unfälle nun einmal geschehen. Leute, die man liebt, sterben. Nichts, was einem teuer ist, ist von Dauer. Und diese Tatsache muss
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