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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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Musikers angeschaut.
    Das Innere der Kneipe war irrsinnig überheizt. Neben dem langen Tresen, hinter dem niemand stand und an dem auch keiner saß, war ein Kanonenofen so gründlich beheizt worden, dass er zu glühen begonnen hatte.
    Ich sah einen Mann in schlechter Haltung vor einem Dartautomaten stehen. Er trug das schlaff an seinen Schultern herabhängende T-Shirt einer Punkband, deren Tourdaten auf dem Rücken aufgelistet waren. Sein rechter Fuß stand hinter einer Abstandsmarkierung auf dem Holzboden und mit der rechten Hand warf er seine Plastikpfeile auf die vorperforierte Scheibe. Ich konnte die Digitalanzeige auf dem Automaten nicht richtig entziffern, aber es schien so, als würde er gegen sich selbst spielen und sei dabei aus einem schwer ersichtlichen Grund weit in Rückstand geraten.
    Es war keine Musik zu hören. Nur das Geräusch der Plastikpfeile beim Einschlag in die Scheibe und hin und wieder ein Bimmeln des Automaten, wenn eine besonders hohe Punktzahl getroffen wurde.
    Auf einem der Tische, der nah an einen speckigen Sessel herangerückt war, stand ein halb ausgetrunkenes Bierglas. Ich dachte, und es kam mir schon im selben Augenblick völlig unsinnig vor, dass ich auf meinen Platz zurück müsste. Mein Bier leertrinken und auf dem Sessel durch den Raum schauen, bis ich vielleicht einschlafen würde oder der Dartspieler in der Partie gegen sich selbst einen Schiedsrichter benötigte.
    Die Wärme des Raumes lag auf meinem Gesicht, meinen Augenlidern und drang langsam durch meine Kleidung. Sie weichte alle Muskeln in meinem Körper auf und ich glaubte, wenn sie erst einmal bei den Knochen ankäme, könnte ich mich nicht mehr auf den Beinen halten.
    Ich trat zurück, raus durch den plakatierten Flur und durch die schwere Holztür auf die Strandpromenade, wo über den Hafen und das Meer eine Dunkelheit herabgesunken war, die nur noch ahnen ließ, dass es hinter den letzten Gebäuden irgendwie weiterging. Ich strengte mich an, in dieser Dunkelheit etwas wie Ferne auszumachen und sah doch nur all die Dinge in meiner Vorstellung, die auf diesem Meer, hinter diesem verwaschenen Horizont verschwinden konnten oder bereits verschwunden waren.

Abb. 8

Fanny Stevenson führte auch selbst Tagebuch über ihre Jahre in Samoa, die gemeinsam mit den Aufzeichnungen ihres Mannes Robert Louis ein umfangreiches Bild liefern aus der Zeit, in der die Kriegsschiffe der verschiedenen Nationen die Bucht und den Hafen von Apia so lange verstopften und sich gegenseitig mit geladenen Kanonen bedrohten, bis schließlich ein drei Tage andauernder Wirbelsturm im März 1889 über die Insel hinwegging und alles zerstörte, was an Kriegsgerät vorhanden war.
    Im Gegensatz zu ihrem Mann aber hatte Fanny Stevenson nie vor, ihre Aufzeichnungen der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
    Vieles von dem, was uns heute vorliegt aus ihren Erinnerungen, ganze Passagen aus ihren Tagebüchern, wurden von ihr, als sie noch lebte, mit schwarzer Tinte gründlich und großflächig durchgestrichen in der Annahme, sie dadurch für immer vernichtet zu haben.
    Spezialisten der Huntington Library in San Marino entwickelten Jahrzehnte später ein Gerät, das durch Verwendung von ultraviolettem Licht, Infrarotfilm und diversen Umkehrverfahren bei der Bildentwicklung all die durchgestrichenen Zeilen aus den Tagebüchern wieder sichtbar machen konnte.
    Jede einzelne Seite, die Durchstreichungen enthielt, musste mehrfach dem Prozess unterzogen werden, bis schließlich am Ende vom schwarzen Balken, der einmal über der Schrift gelegen hatte, nur noch ein grauer Schatten übrig war, unter dem sich die Handschrift Fanny Stevensons brüchig abzeichnete.
    Am Ende, sagte ich zu Richard, sah es auf den Seiten so aus wie am Strand während der Ebbe, wenn vom Meer nur noch ein feuchter Schatten im Sand übrig geblieben ist, die Würmer aus dem Boden kriechen und das Leben lesbar wird, das sich darunter ständig windet.
    Richard wirkte so ahnungslos auf mich, dass ich mich fragen musste, ob er das, was ich ihm so umständlich beschrieb, überhaupt jemals gesehen hat, oder ob er vielleicht gar nichts anderes kennt als diesen verkarsteten Strand im Halbdunkel, aus dem kein Leben mehr emporkommt ans Licht.

Der Supermarkt an der Hauptstraße ist nicht besonders groß, leuchtet aber schon aus weiter Entfernung zwischen den anderen Gebäuden hervor. An den Metallständern im Eingangsbereich war kein Fahrrad angeschlossen, die langen Reihen der Einkaufswagen unter dem

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