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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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verlor sich in der breiten, dunkelgrauen Linie am Horizont, wo das Meer und der verhangene Himmel aufeinandertrafen und rollte so müde und geschlagen gegen das auslaufende Land, dass ich mir noch dachte: Es kann nicht mehr lange dauern, bis alles vollständig gefriert.
    Ich wollte gar nicht daran denken, was alles eingeschlossen war in diese treibenden Schollen aus Eis. Selbst wenn es nur die Bewegung gewesen ist, die hier sonst regelmäßig und beruhigend angebrandet kam.
    An der Promenade war alles verschlossen, nirgendwo sah ich Licht. Hin und wieder rüttelte ein Windstoß an den Häusern oder Fensterläden oder den Fernsehantennen auf den Dächern. Alles sackte nach einem solchen Ruck aber wieder zurück in schläfrige Starre.
    Eine feine Schicht Schnee schlängelte sich im Wind über den Strand wie Staub, über die Promenade und die schmalen Fußwege hinunter zur Hauptstraße. An Hausecken und Mauern sammelten sich kleine Dünen. Niemand mehr, der hier das Schneeräumen gewissenhaft in die Hand nahm.
    Vor einer italienischen Eisdiele stand eine riesige, zugeschneite Waffel mit drei bunten Kugeln. Mit Ketten aneinander geschlossene Freisitzmöbel in Korbstuhloptik standen eng beieinander vor den Fischrestaurants, als könnten sie sich in einer solchen Zusammenrottung ein wenig wärmen. Dazwischen, vor dem Eingangsbereich, sah ich ein Aquarium, in dem das Wasser längst gefroren war. Feine Risse liefen durch das Glas. Innen ein milchiger Block. Am unteren Rand konnte ich noch ein paar grüne Pflanzen erkennen und auf ihren Blättern, da war ich mir nicht mehr sicher,
entweder kleine Einschlüsse aus Luft oder winzige, im Kriechen erstarrte Wasserschnecken.
    Auch die vom Saisonbetrieb unabhängigen Gewerbe hatten bereits geschlossen. In ihren Schaufenstern lagen die Waren im gelblichen Licht der Straßenbeleuchtung.
    Ich lief an einem Atelier für Damenbekleidung vorbei, an
einem Schreib- und einem Spielwarenladen und an dem klei-nen Elektrofachmarkt, an den ich schlechte Erinnerungen hatte, durch eine vergangene Ferienarbeit vor meinem Wegzug aus dem Ort. Einen langen Sommer hindurch hatte ich dort Fernsehgeräte herumgetragen, Bildröhren abgestaubt, Kabel entwirrt und ungläubig in aufgeschraubte Videorekorder geschaut, die in ihrer offen liegenden Mechanik wundersam aussahen, wie ein sehr zerbrechliches System.
    Am Hafen kam ich an den verlassenen Bewachungsanlagen vorüber, dem Wachturm, der sich als höchstes Gebäude eckig über die Buden und kleinen Bootswerften erhebt, mit dunklen Scheiben in tiefer Ruhe. Das Wasser im Hafenbecken war fest gefroren. Ein paar alte Holzboote steckten darin, die Segelschiffe hatte man sicherlich vor langer Zeit schon aus dem Wasser gehoben und bis zur Wiederkehr des Frühlings in spezielle Garagen verbracht oder auf Anhängern in die Vorgärten gerollt und unter Zeltplanen verstaut.
    Am Rand des Hafenbeckens, zwischen einem verschlossenen Angelbedarfsladen und einem von modrigen Latten umzäunten Parkplatz, leuchtete an einer Hauswand abwechselnd der Schriftzug einer amerikanischen Brauerei und das Wort Open in roten Buchstaben. Aus der dicken Holztür daneben, in die ein quadratisches Fenster eingelassen war, sah ich tatsächlich schwach ein wenig Licht aus dem Inneren herausleuchten.
    Diese Kneipe habe ich noch nie gesehen, dachte ich. Und dass ich einmal nachsehen müsste, wie es darin aussah.
    Durch die Tür kam man zuerst in einen schmalen Flur, in dem lauter Plakate hingen, die längst vergangene Konzerte in den verschiedensten Ländern der Welt ankündigten. Es handelte sich um unterschiedliche Gruppen und Veranstaltungen, Konzerte in Jazzkellern, auf Festivals, aber auch in nobel klingenden Konzerthäusern in Odessa, Brüssel, Oslo, Addis Abeba, Seoul, Bogotá und Buenos Aires. Als ich die Plakate eine Weile angeschaut hatte, fiel mir auf, dass auf jedem Guppenfoto der teilnehmenden Musiker eine einzelne Person immer wieder auftauchte. Ein meistens in der zweiten Reihe oder im Hintergrund der Bühne stehender, schmächtiger und sehr jugendlich aussehender Mann mit Schnurrbart, der eine Trompete entweder mit beiden Händen vor seine Brust hielt oder gerade hineinblies. Er war auf all den aufgehängten Bildern der einzige, der jedes Mal in die Kamera schaute. Ich konnte so nah an die Plakate herantreten, bis ich schon die einzelnen Punkte erkannte, aus denen der Druck zusammengesetzt war, und hatte trotzdem noch das Gefühl, ich würde von den Augen des jungen

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