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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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danach oft ganz unruhig im Haus umherläuft oder auf lange Zeit rausgeht in den Schnee und mir unter Drohungen verbietet, ihm zu folgen.
    Zu diesen Fragen gehören:
    Wann bist du hierhergekommen und von wo?
    Wo ist deine Familie?
    Was ist mit meinen Eltern passiert?
    Musst du nicht irgendwann in die Schule gehen?
    Was hast du gemacht, als du allein warst?
    Dazu kommt die Frage nach den Werkstücken, die er anscheinend immer dann bearbeitet, wenn ich aus dem Haus bin und die mich immer drängender interessieren, je länger sie von Richard vor mir versteckt werden.
    Er bewahrt sie, so viel habe ich mir zusammengepuzzelt aus kurz in sein Zimmer geworfenen Blicken und zu spät von ihm abgebrochenen Handgriffen, in Einzelteile zerlegt und in Pappschachteln verstaut unter dem Bett und unter den Regalböden in meinem alten Kinderzimmer auf.
    Die Zeiten, die ich ohne Richard im Haus meiner Eltern verbringe, sind höchst selten, und nie kann ich sicher sagen, wie lange er wegbleibt. Ich würde außerdem niemals in seiner Abwesenheit anfassen und durchsuchen, was ihm gehört, weil ich weiß, dass sein Vertrauen in mich dann für immer verloren wäre.
    Was ihm gehört ist dabei eine Art fließende Kategorie geworden. Manchmal stehe ich in diesen Tagen in der geöffneten Tür zu meinem Zimmer und schaue hinein auf die Möbel und die Bilder an den Wänden, und obwohl ich weiß, dass ich alles einmal selbst auf diese Weise arrangiert habe, passt es ja mittlerweile viel besser zu Richard als zu mir. Es ist seins geworden, weil er jetzt das Kind ist und weil er hier den für das Kind vorgesehenen Raum bewohnt. Die Jahrbücher aus meiner Schulzeit, Tagebuchhefte oder Fotoalben, die überall in Schubladen und zwischen Büchern aufbewahrt sind, gehören zu diesem Lebensraum dazu, auch wenn sie Teile meiner eigenen Vergangenheit sind. Ich würde, wenn ich plötzlich anfinge, mich dafür zu interessieren, wahrscheinlich bei Richard um Erlaubnis fragen, sie herunter ins Wohnzimmer holen zu dürfen.
    Es klingt seltsam, aber so hat sich das mit den Dingen im Haus meiner Eltern entwickelt, mit denen, die mir gehört haben, mit ihren, mit dem, was wir hinzugebracht haben, seit ich wieder da bin. Es handelt sich bei alldem nicht mehr um Besitz im eigentlichen Sinn, und es wird von mir auch nur noch dahingehend überprüft, ob es für uns und dabei vor allem für Richard von Nutzen ist.
    Umso aufmerksamer werde ich, als Richard mich an einem dieser Tage fragt, ob ich dabei helfen kann, etwas Material und Werkzeug zu besorgen, das er für seine Arbeit benötigt. Es fehlen ihm, wie er sagt, einige Zentimeter Stahlrohr, eine Eisensäge und ein Mörser. Wir besorgen diese Dinge in den Einzelhandelsgeschäften des Ortes, deren Betreiber wacker morgens die Türen aufschließen und die Flächen vor den Läden begehbar halten durch Schaufeln und Streuen. An manchem Morgen habe ich schon gesehen, wie die Inhaber der kleinen Geschäfte mit den Scheibenkratzern aus ihren Autos die Schaufenster bearbeitet haben, um wenigstens im Radius ihrer eigenen Körpergröße die Auslage freizuhalten vom Frost und den Blumen aus Eis.
    Nachts fallen die Temperaturen immer weiter in immer unerträglichere Tiefen, kaum einer geht dann noch vor die Tür, und es wird so still im Ort wie auf einem Friedhof.
    Wir kaufen die von Richard benötigten Dinge. Das heißt, ich kaufe die Dinge in den Läden an der Promenade und der Hauptstraße, Richard wartet eigentlich immer vor den Geschäften auf dem Gehsteig, weil er sich nicht mit den Bewohnern des Ortes und ihrer Neugier, an die sie sich immer dann erinnern, wenn sie einem Kind begegnen, mit ihren Fragen und verstellten Stimmen, mit ihren hornigen Handflächen auseinandersetzen möchte. Wenn wir das Haus verlassen, trägt er eine dicke Jacke und eine marineblaue Mütze mit hochstehendem Bommel, an der ich ihn gleich erkenne, wenn ich aus den freigekratzten und doch ständig beschlagenen Schaufensterscheiben nach draußen auf die Straße schaue.
    Diese Mütze hat ziemlich genau die Farbe des Meeres, wie es hier eigentlich aussieht an einem klaren Tag – wie ich es nicht mehr gesehen hatte, seit ich zuletzt aus dem Ort weggegangen war.
    Wahrscheinlich ist sehr viel Zeit vergangen. Es gab nirgendwo einen verlässlichen Kalender oder eine mit Sicherheit korrekt nach unserer Lage auf dem Planeten gestellte Uhr. Nicht im Haus und nirgendwo im Ort. Es lässt sich nicht mehr zweifelsfrei sagen, wann ich angekommen bin und wie viel

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