Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Zeit tatsächlich seitdem verstrichen ist.
Die Bewohner des Ortes sind, vorsichtig formuliert, keine große Hilfe. Sie haben selbst große Schwierigkeiten, meistens mit sich und den Umständen der anhaltenden Kälte. Sie verabreden sich untereinander für später, wenn es dunkel ist oder für morgen , und sie sagen meistens gestern , wenn sie die Vergangenheit meinen, wobei sie sich dann auf etwas beziehen, was genauso gut auch vor einigen Tagen passiert sein könnte. Die Ereignisse aus einer länger zurückliegenden Vergangenheit, vor allem solche aus einer Zeit, in der über dem Ort einmal die Sonne stand, Blätter an den Bäumen hingen und Besucher auf den Freisitzmöbeln an der Strandpromenade Fischgerichte verzehrten, scheinen ihnen allen längst verschwommen und unklar geworden zu sein. Keiner, so kommt es mir in diesen Tagen oft vor, traut sich mehr so recht, über diese Zeit zu sprechen. Aus Angst, er könnte sich da etwas zusammenfantasiert haben, wonach ihn die restlichen Ortsbewohner für endgültig verrückt geworden erklären müssten.
Wenn ich mit Richard gemeinsam am Strand entlanggehe, dann schaut er auf eine so unbeteiligte Art am Meer vorbei, dass mir klar wird, dass wirklich nur ich selbst noch etwas Erhabenes davon erwarte. Und auch wenn ich mich zu dieser Zeit schon etwas besser an die Verhältnisse gewöhnt habe, befällt mich doch immer wieder eine unbeschreibliche Müdigkeit, sobald ich häufig hin und her wechseln muss zwischen draußen und drinnen. Das ist nach dieser ganzen, als unbekannte Größe an uns vorübergegangenen Zeit vielleicht eine der größten Schwierigkeiten des Lebens im Ort – mit dieser Innenraummüdigkeit umzugehen und mit der Tatsache, dass es vor den Türen auch bei bester Winterkleidung nicht lange auszuhalten ist. Hauptsächlich wegen der frostigen Eiswinde, die von der kalten See her täglich ungebremst über uns hinweg gehen.
Es gab in den ersten Wochen auch hin und wieder einen triftigen Grund zur Hoffnung, wie ich damals meinte, dass jetzt ein Umbruch passieren müsste, ein Aufreißen der unendlich in alle Richtungen über uns sich hinziehenden Wolkendecke. Manchmal färbten sich die Wolken tiefgrau, zogen etwas mächtiger auf als sonst, der Schnee setzte für ein paar Stunden aus, und es fiel ein harter, kalter und sehr gerader Regen vom Himmel auf den Ort, den Strand und das Meer. An solchen Tagen schmolz ein wenig von dem Schnee auf dem Uferstreifen, die Eisschollen auf der Wasseroberfläche zerbrachen in feine Teile und lösten sich langsam auf. Die Äste und Stämme der Bäume, das Gestrüpp, alles wurde dann von der Feuchtigkeit tiefdunkel eingefärbt und wirkte, als könnte es vielleicht doch noch zurückfinden zu einer lange vergangenen Lebendigkeit.
Die starrsinnigen Fischer sah man dann in ihren dick gefütterten Gummihosen raus ins Meer waten und so lange die Köder an ihren Angelruten auswerfen, bis ihnen am Grund der Stiefel die Zehen taub wurden und sie mit leer in ihren Händen schlenkernden Eimern wieder zurück kamen ans Land. Nach einer Weile fiel dann wieder frischer Schnee, und es trieben erneut die Eisschollen vor der Küste.
Abb. 11
Am 3. Juli 1844 erreichte den Grundschullehrer und jüdischen Kantor Liebmann Adler die Nachricht, seine Frau sei bei der Geburt ihres ersten Sohnes in Folge unerwarteter Komplikationen gestorben. Es ist nicht bekannt, ob die Eltern vor dem plötzlichen Tod der Mutter schon einen Vornamen für das Kind ausgewählt hatten. Wenn es aber einen gab, entschied sich Liebmann Adler dafür, ihn zu verwerfen und durch das deutsch-hebräische Hybridwort Dankmar zu ersetzen, das sich, sage ich zu Richard, wohl am besten mit Dank Bitternis übersetzen lässt.
Zehn Jahre nach dem Tod der Mutter emigrierten Liebmann und Dankmar Adler aus dem thüringischen Lengsfeld nach Detroit, wo der Vater eine Stelle als Rabbiner und Kantor der Jüdischen Beth El Kongregation annahm. Dankmar Adler ging bei verschiedenen Detroiter Architekten in die Lehre, hörte aufmerksam zu, als man ihm erklärte, dass hoch aufstrebende Gebäude die irdische Manifestation der Hinwendung zu Gott seien, kämpfte daraufhin drei Jahre lang im amerikanischen Bürgerkrieg auf der Seite der Unionsarmee und zog schließlich mit seinem Vater in den späten sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Chicago – rechtzeitig, um mitanzusehen, wie die Stadt im Oktober 1871 von einem tagelang wütenden Feuer großflächig vernichtet wurde.
Der Großbrand
Weitere Kostenlose Bücher