Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
um einen getippten Schrei, konnte aber gar nichts mehr damit anfangen, wusste überhaupt nicht, wovon da die Rede war und was das alles heißen sollte, wurde unheimlich wütend und warf die komplette Zeitung ins Ofenfeuer, das von der plötzlichen Papiermenge fast erstickt wurde und schrecklich zu qualmen begann.
Nach einer unerträglich langen Zeit kam Richard schließlich runter ins Wohnzimmer, stellte sich neben die Couch und sah mich an, ohne erkennbaren Ausdruck im Gesicht. Ich erklärte ihm, dass es mir sehr leid täte, entschuldigte mich für mein Fernbleiben die ganze Nacht, dafür, dass ich ihn hier ohne Nahrung und Gesellschaft zurückgelassen hatte. Richard schaute mit einem sehr skeptischen Blick in die Küche, wo ich sein Werkzeug ein wenig zur Seite geräumt hatte, um zum Kochen Platz zu schaffen.
Ich sagte zu ihm: Ich weiß schon, du bist hier auch alleine klargekommen. Aber das musst du jetzt nicht mehr.
Richard fragte mich, was es zu essen gebe und ich bot ihm erleichtert einen Stuhl am Tisch an, auf dem er dann saß, mit baumelnden Beinen, während ich das Gemüse in die Pfanne warf und mir große Mühe gab, alles fein abzuschmecken.
Wir aßen wieder in relativer Schweigsamkeit, ich erkundigte mich zwischendurch nach seinen Vorlieben oder Lieblingsgerichten, die er aber nicht zu haben schien, fragte ihn nach Allergien, Unverträglichkeiten, Intoleranzen, aber nichts davon war ihm ein Begriff, und ich konnte mitansehen, wie er seinen Teller und einen Nachschlag, den ich ungefragt auflud, mit großem Appetit auslöffelte.
Nach dem Essen wanderten seine Augen eine Weile unruhig über den Esstisch, ich gestand ihm, dass ich die Tageszeitung in den Ofen hatte werfen müssen, weil sie mich auf einmal fürchterlich aufgeregt hatte. Ich könnte aber, wenn er wollte, sagte ich, von jetzt an immer wieder Zeitungen am Kiosk im Ort kaufen und mitbringen und ihm daraus vorlesen. Besonders schöne Bilder könnten wir ausschneiden und aufheben und den Rest dann zum Anheizen verwenden.
Ich kann dir aber auch, sagte ich, Geschichten erzählen, die nicht in der Zeitung stehen. Wenn du das willst.
Richard stand auf und ging in die Küche. Zuerst dachte ich, um nach seinem Werkzeug zu sehen, um aufzuräumen oder eben um nicht mehr mit mir am Tisch sitzen zu müssen. Dann kam er aber zurück mit einem Glas Milch in der Hand, setzte sich und sah mich an mit einer unfassbaren Ruhe in den Augen.
Und dann spürte ich schon, dass es mir jetzt und von jetzt ab auch weiterhin möglich sein würde. Ich fing einfach an, der Einstiegsort kam mir ganz gleichgültig vor. Zum ersten Mal überhaupt hatte ich das Gefühl zu wissen, wie es geht. Für Richard mussten die Geschichten sein. Für seine speziellen Bedürfnisse. Von der Welt außerhalb des Ortes mussten sie handeln, von den Menschen, die in diese Welt aufgebrochen waren, auf ihren Füßen über Land oder auf Schiffen über das weite Meer. Ich würde ihm alles erzählen, was ich wusste. Und das war ja schließlich nicht nichts. Es war vielleicht gar nicht mal so wenig.
Immer wieder überprüfte ich, ob sich etwas regte in seinem Gesicht. Ich war mir nicht sicher, aber es sah so aus, als hörte er mir zu oder fände es zumindest nicht störend, dass ich sprach. Er blieb geduldig auf seinem Stuhl sitzen, während ich redete, während ich so lange ohne nennbare Pausen weitersprach, bis sich plötzlich ein Gefühl einstellte, als habe mir jemand kühle Tücher um den Kopf gewickelt. Es war sehr angenehm, wie eine leere Lunge nach langem Ausatmen, oder der verklingende Ton einer Saite im Raum, der schon gar nicht mehr zu hören ist, aber eben doch noch dasteht, nachwirkt, bis ein anderes Geräusch ihn verdrängt. Ich dachte an den Ofen und die verbrannten Holzscheite, die in Form bleiben, auch wenn sie schon aus nichts als Asche mehr bestehen, an die Luft nach einem Gewitter, das Fahren mit der flachen Hand über ein leeres Blatt Papier, die endlose Rotation der Erde, an all die Aale vor der Küste, die, wenn sie es wollen, in einem sandigen Bau verschwinden, der exakt ihre Passform hat. Ich dachte an die kleinen Schnecken auf dem Blatt, im Aquarium am Strand und Richard sagte: Wenn du hier leben willst, musst du doch auch Geld verdienen.
ZWEITER TEIL
Nach einigen Wochen im Ort meiner Herkunft, im Haus meiner Eltern, mit Richard in den Räumen meiner Kindheit, habe ich gelernt, eine Reihe von Fragen nicht mehr zu stellen, weil sie Richard zu sehr aufregen. Weil er
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