Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
wälzte sich durch die Stadt und vernichtete achtzehntausend Gebäude, hinterließ eine Ruinenlandschaft, die von der damaligen Presse und den Autoren, die Begriffe für das zu finden versuchten, was sie da vor sich sahen, als die Überreste des schlimmsten Holocaust der Geschichte bezeichnet wurde, was ja, sage ich zu Richard, wohl wörtlich gemeint war und zum damaligen Zeitpunkt vielleicht auch zutreffend gewesen sein mag. Ich schaue ihn kurz an und bemerke, wie sich dieser ganze Seitenarm der Geschichte in einem gelangweilten Blick aus dem Fenster verliert. Sobald ich mit Richard über Begriffe spreche, geht seine Aufmerksamkeit sehr zuverlässig verloren.
Die Straßen der Stadt, fahre ich also fort, waren jedenfalls noch Tage nach dem Brand unbegehbar heiß, und die wenigen, die sich, vermummt, als wäre der tiefste Winter über sie hereingebrochen, in die Ruinen aufmachten, um die in Wandsafes und Stahltruhen aufbewahrten Wertpapiere und Banknoten zu bergen, mussten nicht selten mit ansehen, wie die papierenen Reste ihres Wohlstandes noch in den rettenden Händen in Flammen aufgingen, als sie der flirrend heißen Luft ausgesetzt wurden.
Es ist wahrscheinlich, sage ich zu Richard, den ich mir damit wieder zurückgeholt habe, zumindest schaut er mich jetzt an, dass Adler damals schon wusste, was für alle zu dieser Zeit in Chicago ansässigen Architekten galt:
Dass nun seine Zeit gekommen war. Eine geschichtlich einmalige Gelegenheit. Eine völlig verkohlte Brachlandschaft dort, wo vorher noch die stetig wachsende Stadt gestanden hatte. Eine Leerstelle, von der jeder, der zu Visionen fähig war, wusste, dass sie bald mit der neuen Idee einer Stadt aufgefüllt werden musste.
Beim Anblick des Feuers, und wohl vor allem beim Hören der Vielzahl von Geräuschen, die dieses Feuer verursachte, ist es Adler und den anderen in Momenten der still in die Vision der späteren Großtaten versunkenen Nachdenklichkeit bestimmt schon so vorgekommen, als wäre das laute Krachen, Schnalzen, Prasseln und Schlagen der verzehrenden Flammen, das Zusammensinken der Balken und Mauern bereits ein tosender Applaus für das später von ihnen vollbrachte Gestaltungswunder.
Abb. 12
Richard geht meistens ein Stück weit vor mir her, wenn wir nach Hause laufen. Vor allem, nachdem wir gemeinsam eingekauft haben, macht ihn die Vorfreude, alles zu Hause ordentlich aufzuräumen oder vielleicht auch später noch hinter geschlossener Tür in seinem Zimmer zu benutzen, ein paar Schritte schneller. Er bleibt auch nicht stehen, wenn ich mir etwas ansehe oder von einem der Bewohner des Ortes angesprochen werde. Wenn ich zu lange brauche, geht er einfach nach Hause und macht ein Feuer im Ofen, läuft mit einem Stock in der Hand ums Haus und schlägt den Schnee von den Ästen der Bäume, soweit er sie erreichen kann, oder er geht ohne Umweg hoch in sein Zimmer und schließt die Tür.
Er läuft ein Stück vor mir her, ich schaue mir den blauen Bommel seiner Mütze an, der bei jedem Schritt mitschaukelt, und überlasse es Richard, den Heimweg auszusuchen. Ob wir am Meer entlanggehen, an der Hauptstraße oder den kleinen Umweg durch ein angrenzendes Wohngebiet. Es ist immer eine weiße Landschaft, mit Häusern oder dem Strand, langsam dahinziehende Autos, wenige Menschen auf den Bürgersteigen, die dunkelgraue Winterjacke und die blaue Mütze.
Mir fällt in dieser Zeit oft auf, wie ich meinen Blick immer auch ein Stück über Richard hinausgehen lasse, bis zur nächsten Kreuzung den Bürgersteig absuche nach möglichen Gefahren, die Straßen im Auge behalte, Gartentore und Autotüren, die nachlässig zum Gehweg hin geöffnet werden könnten, Eisflächen, Räumwerkzeug, nicht angeleinte Hunde. Eine ganze Zeit lang war es mir immer unerträglich, so viel auf einmal wahrnehmen zu müssen. Ich habe die meiste Zeit in meinem Leben hauptsächlich damit zugebracht, absichtlich wegzuschauen und mich nicht von allem, was ständig um mich herum passierte, was sich meine Aufmerksamkeit erhampeln wollte, ablenken, verwirren und zerstreuen zu lassen.
Jetzt aber kam es auf das Schauen wieder ganz stark an. Und es war ein wachsames Schauen. Ein Bewachen. Es war von uns beiden aus in die Welt gerichtet, und es erkannte dort die Gefahren, die auf uns einzubrechen drohten, und schied sie klar von den Dingen, die einfach nur so vorhanden sind. Ich habe zu dieser Zeit festgestellt: Wenn man etwas bewacht, wenn man vor etwas oder jemandem Wache hält, dann richtet sich
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