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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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können.
    Die Menschen wollen aber, sagt Letterau, wissen, was geschieht, und ich biete seit einiger Zeit diese Dienstleistung an, die zur tragenden Säule meines Unternehmens geworden ist. Und das würde ich jetzt gerne an Sie delegieren, damit mir mehr Zeit bleibt, meinem eigentlichen Handwerk nachzugehen. Ihre Aufgabe hier wird sein, einen Abriss des täglichen Unterhaltungs- und Informationsspektrums anzufertigen. Mit diesem Rekorder, sagt er und legt dabei seine flache Hand auf das Gerät.
    Mir ist absolut klar, dass Sie sich nicht alles gleichzeitig anschauen können, aber das erwarte ich auch gar nicht. Sie werden ohnehin sehen, dass es gar nicht so viel ist, was unsere Anlagen aus diesem Granithimmel herauslesen können, und dass es außerdem mit der Vielfalt im Programm nicht sehr weit her ist. Aber ich bitte Sie trotzdem im Hinterkopf zu behalten, dass Ihr Primärziel die Vollständigkeit ist und nicht der Bildungsauftrag oder der Nachweis von Geschmack.
    Sie werden hier jetzt jeden Tag, in Intervallen von zwei Stunden am Morgen, mittags und abends, bevor Sie den Laden verlassen, Aufnahmen machen und diese Aufnahmen als Erstes am nächsten Tag in ausreichender Zahl vervielfältigen. Wir können so zwar nur das Programm von gestern unseren Kunden anbieten, aber Ihnen ist ja vielleicht schon aufgefallen, dass hier unter den Leuten eine gewisse Gleichgültigkeit herrscht, was diese Begriffe angeht.
    Ja, sage ich, das ist mir schon aufgefallen.
    Ich nahm den Fernseher in Betrieb und schob oben eine unbespielte Kassette in den Rekorder. Am Anfang hatte ich noch beide Fernbedienungen in der Hand, mit der einen schaltete ich durch die Programme, und auf der anderen drückte ich die Aufnahmetaste, sobald ich das Gefühl hatte, hier zeigt sich der Fernsehtag auf eine repräsentative Weise. Später dann setzte ich mich einfach an den Arbeitsplatz, startete die Aufnahme und sprang zwei Stunden lang durch die Programme. Dreimal zwei Stunden jeden Tag, Frühstücks- und Mittagsfernsehen und das Vorabendprogramm.
    Zuerst erschien nur ein dicker Balken, der den Bildschirm gleichmäßig von oben nach unten durchwanderte und an seinem oberen Rand von ein paar bunten Strichen ausgefranst war, die mich ein wenig an Flammen erinnerten. Ich schaltete auf den nächsten Programmplatz und sah eine stark verzerrte Person vor einer Wetterkarte. Das Land, das auf die Studiowand projiziert wurde, war an mehreren Stellen durchbrochen und flimmerte, ebenso die Person selbst, ich konnte sie kaum erkennen, aber ich glaubte sehen zu können, dass sie mit den Schultern zuckte.
    Das erste Bild, das halbwegs klar vor mir auf dem Bildschirm erschien, war das einer Gruppe Polizisten, die Gasmasken und Kampfmontur trugen und zwischen sich auf dem Straßenboden eine Coladose hin und her traten. Im Hintergrund, das konnte aber auch schon wieder an der Bildqualität liegen, stieg Rauch auf aus einer Häuserzeile. Ich startete die Aufnahme.
    Ich dachte zuerst, ich müsste bestimmt noch heftiger gegen den Schlaf und die Müdigkeit kämpfen, wenn ich dort oben saß. Vor den dunklen Fenstern in der warmen Werkstatt, allein auf meinem Stuhl vor dem flimmernden Gerät, aus dem wirklich nur ganz selten ein brauchbares Tonsignal zu hören war, weshalb es meistens in Flüsterlautstärke vor sich hin rauschte. Ich stellte aber fest, dass ich, egal wie müde und taub im Kopf, nicht einschlafen konnte, solange der Fernseher lief. Es ist auch schon vorgekommen, dass ich die Apparate ausgeschaltet habe und danach sofort auf meinen verschränkten Armen am Arbeitplatz eingeschlafen bin, bis Herr Letterau nach oben kam und mich aufweckte. Vor dem Fernseher selbst bin ich aber wach geblieben, immer, und ich glaube, dass Herr Letterau mit der Arbeit, wie ich sie da oben machte, ganz zufrieden war.
    An den Morgenden überspielte ich die Aufnahmen auf mehrere Kassetten, und ich konnte dann auch häufig sehen, wie tatsächlich Bewohner aus dem Ort in den Laden kamen, mit Einkaufsbeuteln oder Rucksäcken und die aktuellsten Mitschnitte verlangten.
    Letterau hatte sich dafür eine Art Pfandsystem ausgedacht. Wer die Dienstleistung zum ersten Mal in Anspruch nahm, zahlte einen gewissen Grundbetrag für die Kassetten, und wenn man sie dann das nächste Mal wieder zum Neubespielen zurückbrachte und gegen eine neue eintauschte, berechnete er nur noch die darauf enthaltene Information. Ich habe auch gesehen, wie eine Frau nur ihre Kassette zurückbrachte und an dem Service

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