Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
Vom Netzwerk:
Richard – wahrscheinlich aus einem gewissen Handwerksinteresse heraus – hallten noch die Aufbauarbeiten der Galgenkonstruktion im Innenhof durch den Gefängnistrakt.
    Es ist die letzte Gelegenheit ein paar Briefe zu schreiben, während draußen vor dem Gefängnis alle angrenzenden Straßen abgesperrt sind und ein Aufgebot von dreihundert Polizeibeamten die Unmöglichkeit einer Volkszusammenrottung gewährleistet. Sheriff Canute R. Matson, erzähle ich Richard, verlässt gemeinsam mit den Deputies Hartke, Cleveland, Spears und Peters, dem Countyphysiologen Mayer und dem Vollzugsbeamten Folz um elf Uhr dreißig den Aufenthaltsraum der Angestellten, aus dem man noch am Vortag den Sessel herbeigebracht hatte, in dem Louis aufrecht sitzend gestorben war und in den sich jetzt niemand mehr so recht hineinsetzen wollte.
    Die Gruppe tritt einzeln an jede Zelle heran, das Todesurteil wird den Gefangenen nochmals verlesen, danach werden ihre Arme mit Lederriemen am Körper festgebunden, die Hände hinter dem Rücken mit Handschellen fixiert und jedem einzelnen eine schlohweiße Robe aus Musselin übergehängt. Sie werden in den Innenhof geführt, wo circa einhundertsiebzig Personen, Reporter, Zeugen und Interessierte bereits Platz genommen haben, werden an ihre Positionen unter dem Querbalken geführt, wo man ihnen die Beine zusammenbindet, die Stricke um den Hals legt und eine ebenfalls weiße Haube über den Kopf zieht.
    Richard kaut etwas unbehaglich an einem seiner Nägel. Aber ich denke, er soll schon wissen, wie so etwas abläuft.
    Dann stehen da, sage ich, vier komplett weiße Gestalten, die nicht etwa wie Schneemänner aussehen, was einem ja gleich in den Sinn kommt, wozu Richard nur die Stirn runzelt, als wüsste er gar nicht, wovon hier die Rede ist, und tatsächlich, fällt mir dabei auf, habe ich schon lange niemanden mehr mit dem vielen Schnee, den es hier gibt, spielen sehen, das ist den Menschen wohl vor geraumer Zeit vergangen, sondern vielmehr, sage ich, und das kann man sehr gut sehen auf den Zeichnungen, die von dem Ereignis für die verschiedenen Tageszeitungen angefertigt wurden, wie vier bereits ausgelöschte Körper. Vier Leerstellen, sage ich, die Roben musst du dir so weiß vorstellen, dass die Zeichner, die den trüben Gefängnisinnenhof, den Galgen und die Gitter der Zellentüren, das ganze Stahlgrau und Schwarz, schon während der Wartezeit vorher säuberlich aufs Papier übertragen hatten, jeden der vier da oben auf ihre Hinrichtung Wartenden wahrscheinlich mit dem Radiergummi aus der Zeichnung hervorholen mussten. Also wirklich ausradieren , sage ich, als bei Richard nichts davon auf die erhoffte Weise ankommt.
    Ich bringe es für uns zu Ende und erzähle, dass einer der so vermummten schließlich noch unter seiner Robe, und ich stehe auf dafür, auch wenn es mir gleich etwas pathetisch vorkommt, den Satz hervorruft: Der Tag wird kommen, an dem unser Schweigen mächtiger sein wird als die Stimmen, die Ihr heute erdrosselt!, dass dann ein Zeichen gegeben wird, die Klappen zu öffnen und für die folgenden zehn Minuten in dem sehr stillen Gefängnis nur das hektische Rascheln der weißen Roben zu hören ist.
    Als es schließlich völlig still wird und sich unter den Hängenden niemand und nichts mehr rührt, sage ich, schickt man die Reporter nach Hause, lässt die Körper vorsichtshalber noch eine weitere halbe Stunde hängen und im Anschluss die offiziellen Vollstreckungszeugen Dr. Ferdinand Henrotin, Dr. Denslow Lewis, Dr. G. A. Hall, Dr. Harry Brown, Dr. J. B. Andews, Dr. M. W. Thompson, John N. Hills, William B. Keep, ex-Sheriff John Hoffman, Edwin Wynn, George Lanz, George M. Moulton, John L. Woodward und H. L. Anderson einzeln an den Erhängten vorübergehen und sicherstellen, dass sie tatsächlich auch tot sind und nicht etwa an einem gebrochenen Genick gestorben, sondern fachgerecht und dem Urteil entsprechend stranguliert, was selbst auch noch einige Zeit in Anspruch nimmt.
    Eine lange schwarze Trauerprozession, füge ich noch an, obwohl Richard, das sehe ich schon, jeden Moment grußlos nach oben trotten oder aus dem Haus gehen wird, zieht zwei Tage später durch die Stadt Chicago, an allen Häusern der Hinterbliebenen Station machend, zu Fuß und auf Pferdewagen die Häuserzeilen entlang bis zu einem kleinen Stadtteilbahnhof, wo die Särge in einen Vorortzug verladen werden und gemeinsam mit den Trauergästen in den nahegelegenen Stadtteil Forest Park gefahren, auf den Waldheim

Weitere Kostenlose Bücher