Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
Vom Netzwerk:
nicht länger interessiert war. Ihr wurden dann ein paar Münzen ausbezahlt, und Herr Letterau hatte ihr lächelnd die Tür geöffnet. Das kam aber, glaube ich, sehr selten vor.
    Nach meinem ersten Arbeitstag im Laden gehe ich direkt und auf dem kürzesten Weg nach Hause. Ich fühle mich erschlagen und leer und glaube auch, dass es so ungefüllt für mich noch weniger Schutz gibt vor der Kälte.
    Es ist dunkel, und ich sehe außer mir niemanden von der Arbeit nach Hause gehen. Die Straßen sind verlassen, in den Häusern brennen Lichter. Es ist immer erst die Kleidung, durch die ja kein Blut fließt, die gleich nach dem Rausgehen erkaltet und einem eisig auf der Haut liegt. Die Baumwolle, die ständig gefriert und wieder auftaut, wird ganz muffig und irgendwie selbst auch müde, und ich denke in dieser Zeit oft, man müsste sie für ein paar Stunden in die Sonne legen, bevor sie einen wieder wärmen könnte.
    Im Haus meiner Eltern sitze ich eine Weile auf dem Stuhl im Flur und starre auf meine Schuhe, bevor ich die Kraft aufbringe, die Schnürsenkel zu lösen. Ich gehe nicht nach oben, um nach Richard zu sehen, sondern direkt ins Wohnzimmer, wo im Ofen wieder ein Feuer für mich brennt.
    Ich knie einige Minuten im stumpf schummernden Licht des Kühlschranks, belege mir schließlich ein Brot und gehe damit die sicherlich letzten Meter an diesem Tag, zur Couch, auf der ich dann sitze und kaue und an gar nichts denke.
    Irgendwann kommt Richard aus dem oberen Stock herunter, geht in die Küche, klappert eine Zeit lang auf eine nicht identifizierbare Weise herum, ich glaube ein kurzes Sägegeräusch zu hören, ein Ratschratsch und einen Hammerschlag. Vielleicht bilde ich mir das aber auch ein. Er geht dann noch einmal kurz nach oben, kommt aber gleich zurück und setzt sich zu mir aufs Sofa, schaut mich an und ich entschuldige mich bei ihm, ich bin sehr müde, sage ich, heute keine Geschichte, kann dir aber noch erzählen, was ich so gemacht habe.
    Ich erzähle Richard von den Aufnahmen, erzähle ihm von einem Landwirt, dem eine sehr große Nase im Gesicht sitzt und der gemeinsam mit einer schmalen, rothaarigen Frau auf einem Traktor übers Feld fährt. Er sieht sehr glücklich aus, sage ich. Danach schaut er aber plötzlich direkt in die Kamera, er ist jetzt allein und im Begriff etwas zu erzählen, macht eine Pause, seine Augen wandern hin und her, sein Kopf bewegt sich dabei nicht. Es sieht so aus, als würde er versuchen, etwas hinter sich zu sehen oder zumindest in der Peripherie, als müsse er sich absichern, dass da keiner steht und ihm zuhört, der nicht hören soll, was er sagt, und dann sagt er: Na ja, wir haben noch eine Weile da im Restaurant gesessen, und dann hat sie einfach alles ausgesoffen. Sie ist wirklich ein Pferd manchmal.
    Ich erzähle Richard auch von einem Motorradfahrer in feuerfarbener Ledermontur, der die Stahlstreben einer großen Sundbrücke entlangfährt und von einem grauhaarigen Staatsmann, der sich in einem sehr großen Plenarsaal aus edlem Holz unbeobachtet fühlt und ausgiebig im Ohr bohrt. Ich erzähle ihm von einem Cabriolet, das auf einer Serpentinenstraße in die Kurve fährt, darin zwei Gesichter, mit aufgerissenen Mündern und Augen, aus Freude, sage ich, und aus Angst, und wie in einem schwarz-weißen Niemandslandbahnhof eine düstere Gestalt in schwarzem Anzug, aus der Hüfte heraus und über die Gleise, einem dicken Mann in den Rücken schießt, der dann zusammensackt auf den Bohlen des Bahnsteigs, kurz bevor der Zug einrollt.
    Als ich zu sprechen aufhöre, habe ich kurz das Gefühl, Richard klatscht gleich in die Hände vor Begeisterung. Er kickt jedenfalls mit den Beinen aus, das habe ich noch nie an ihm gesehen. Und er bleibt an diesem Abend zum ersten Mal, seit ich wieder zurück bin im Haus meiner Eltern, fast noch so lange im Wohnzimmer sitzen, bis ich eingeschlafen bin.

Abb. 15

Am 11. November 1887, am Morgen nach der Explosion in Louis Links Gesicht, sitzen die übrigen Verurteilten Georg Engel, Albert Parsons, Adolph Fischer und August Spies in ihren Zellen, frühstücken, lesen die Tageszeitung und weisen, jeder einzeln, sehr freundlich aber auch bestimmt, einen Geistlichen der Methodistischen Episkopalkirche zurück, der anbietet, gemeinsam die letzten Vorbereitungen für einen reibungslosen Übertritt ins Reich des Herrn zu treffen. In der Nacht, und dafür bekomme ich ein wenig Extraaufmerksamkeit von dem sonst schon eher gelangweilt diese Geschichte absitzenden

Weitere Kostenlose Bücher