Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Friedhof, sage ich zu Richard, der das Ende doch noch abwartet, wo die fünf Verstorbenen für einige Tage in einer Gruft gelagert werden, bis man sie schließlich am 18. Dezember 1887 in einem Gemeinschaftsgrab beerdigt.
Ich stehe mit Richard vor dem Wachturm am Hafen. Es muss ein Wochenende sein, ich habe frei und wir gehen gemeinsam durch den Ort. Es gibt nichts zu besorgen oder zu tun, wir laufen einfach bis zum Hafenbecken, am Geländer entlang bis zum Wachturm, ein stückweit auf die schmale Seebrücke, die aber gesperrt ist. Wir stehen gemeinsam vor dem Wachturm, und ich erzähle Richard, dass es schon einmal eine Zeit gegeben hat, in der vom Meer ein ausreichender Teil gefroren war, sodass man darauf herumlaufen konnte. Ein Rekordwinter, sage ich, die See ist über Nacht einfach erstarrt.
Es hat zu dieser Zeit eine Grenze gegeben, die sogar auf dem Wasser bewacht wurde. Es gab viele Menschen, die gerne von ihrer Seite auf die andere gelangt wären, obwohl das verboten war, und deshalb postierte man an diesen kalten Tagen Grenzwächter auf dem zugefrorenen Meer, die Tag und Nacht zwischen den karstigen Schollen patrouillierten, mit Taschenlampen, Hunden und Gewehren und aufpassten, dass alle auf ihren Seiten blieben.
Und die es doch versucht haben, sage ich, die haben sich tagsüber bei starkem Nebel oder Schneefall, im Morgengrauen oder mitten in der Nacht in weiße Bettlaken gehüllt, um möglichst gut getarnt zu sein in der Schneelandschaft und vielleicht nicht von den Wächtern entdeckt zu werden.
Was sie gegen die Hunde unternommen haben, kann ich dir nicht sagen, sage ich, auch nicht, wie viele tatsächlich mit dieser Taktik Erfolg hatten und wie viele doch mitten auf dem Eis aufgegriffen und verhaftet wurden. Ein paar müssen es aber geschafft haben, sonst gäbe es diese Geschichte ja nicht.
Als ich später sehr niedergeschlagen im Haus meiner Eltern herumhänge und mich für nichts begeistern oder motivieren kann, nur am Küchentisch sitze und in den Raum starre, bemerkt Richard meine schlechte Stimmung und setzt sich zu mir an den Tisch.
Er erzählt mir, wie zum Trost, dass er oft mit seinen Händen kleine Formen macht, durch die er dann hindurchschaut. Wie Rahmen, sage ich und er sagt: meine Hände. So. Und schaut mich an durch ein kleines Loch zwischen seinen Fingern.
Mit einigem Widerwillen erzähle ich Richard von einer großen Konzertbühne, vor der hunderttausend Besucher mit hochgereckten Armen langsam eingehüllt werden vom künstlichen Nebel aus den Maschinen. Aber ich sehe ja, dass er es gerne hören will. Ich erzähle ihm von dem stark verschwitzten Sänger, der seine Hand ausbreitet, als könnte sie so von allen unten im Stadiongrund gegriffen werden. Er bedankt sich, und dann zieht er die Hand in einer ganz schnellen Bewegung zurück, knickt den Arm ein, kneift die Augen zusammen und ballt eine Faust vor seiner Brust. Ein Rhythmus setzt ein, ein Kreischen der Zuschauer, dann wurde das Signal wieder schwächer, sage ich, und ein horizontal über den Schirm laufender Streifen teilte den Sänger in zwei Hälften.
An einem Tag, als ich noch so gar nicht recht nach Hause gehen wollte nach der Arbeit, laufe ich einen langen Umweg durch den Ort. Ich gehe die Promenade ganz entlang bis an ihr Ende, es ist dunkel, und mir gefriert der Atem auf den Lippen, die Luft sticht in die Nase, es schneit kleine, krisselige Eiskörner.
Ich bin wie jedes Mal erschöpft vom Tag im Laden und entferne mich trotzdem immer weiter vom Haus meiner Eltern. Ich glaube, ich will mich nicht mit Richard auseinandersetzen. Es gibt keinen klaren Grund, ich habe einfach nur an diesem Abend keine Kraft für einen anderen Menschen als mich selbst.
Am Ende der Strandpromenade führt der Fußweg weg vom Meer, an ein paar versprengten Gebäuden vorbei, und trifft schließlich ohne andere Option auf den Bürgersteig der Hauptstraße, lange hinter dem Supermarkt, dort, wo sie aus dem Ort hinausführt und in weitem Bogen um das ehemalige Militärgebiet herum.
Der Strand weicht an dieser Stelle einem langen Streifen Gehölz, der sehr schwer zugänglich ist. So zugeschneit wie jetzt ist dieser Küstenteil voller versteckter Fallen und fast unbetretbar, ohne sich dabei die Füße zu brechen.
Ich überquere die Fahrbahn der Hauptstraße, auf der die Spurrillen der Autos langsam eingeebnet werden in eine gleichmäßige Schneedecke und laufe durch das Wohngebiet am Ortsrand, das von den Bewohnern das Gereute genannt wird,
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