Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
Fensterglas spiegelt. Dann denke ich aber daran, wie jemand, den ich selbst nicht sehen kann, von unten, von der Promenade aus, mich beobachten könnte und nehme gleich ganz verschämt einen Gegenstand auf, ein Werkzeug, von dem ich noch nicht einmal sagen kann, wie es heißt und simuliere damit ein konzentriertes Arbeiten an etwas, das für diesen Betrachter von der Promenade aus unsichtbar vor mir auf dem Tisch liegt. Dann gehe ich aus der Werkstatt in den oberen Flur, durch die Tür auf der linken Seite und setze mich für eine Weile auf den Deckel der Mitarbeitertoilette. Ich höre das Brummeln der Lüftung in dem fensterlosen Raum und manchmal ein leichtes Gurgeln im Spülkasten. Nach einer Weile werden mir diese Geräusche zu laut und ich gehe ins Erdgeschoss zu Herrn Letterau in die Werkstatt, es ist noch Zeit übrig in diesem Arbeitstag, eine Stunde oder zwei, und ich frage ihn, ob es nicht noch etwas für mich zu tun gebe, es könnten auch wieder Fernbedienungen sein oder Kabel, Arbeit, nur kein Fernsehprogramm mehr und nicht die Stille und Dunkelheit, das Scharren der See, die weißen Felder.
Herr Letterau war aber vergnügt versunken in ein sehr kompliziertes Problem. Er hatte einen ausgebreiteten Schaltplan vor sich, auf dessen Linien er immer wieder mit dem Messfühler des Oszilloskops entlangfuhr, zwei Finger der anderen Hand massierten seinen Nasenrücken dort, wo der Steg der Brille den ganzen Tag auflag und über die Jahre zwei rosafarbene, weiche Mulden gebildet hatte.
Er sagte: Jetzt gerade fällt mir gar nichts ein für Sie. Und ich will mir auch nicht irgendwas ausdenken, nur damit Sie hier bis zum Feierabend beschäftigt sind. Wenn Sie die Aufnahmen schon gemacht haben, können Sie jetzt nach Hause gehen. Wir sehen uns dann morgen früh.
Ich nahm mir viel Zeit dabei, meinen Mantel, den Schal und die Mütze anzuziehen, rückte alles zweimal gründlich zurecht. Der Gedanke an die Kälte vor der Ladentür machte mich ganz trübselig. Und der Gedanke an das Haus meiner Eltern, in dem Richard aufgehört hatte, den Wohnzimmerofen tagsüber für mich am Laufen zu halten, machte mich tieftraurig.
Ich ging, vorwärts gegen die kalte Luft gestemmt, die Promenade hinunter, unkonzentriert, abwesend, ohne klaren Gedanken, es gab nichts, worauf ich hätte zugehen können wie auf ein Ziel. Es kam mir vor, als würde ich Runden laufen oder geradeaus auf einer riesigen Scheibe, die sich beständig dreht. Ich dachte wieder an das Rätsel aus Richards verknitterter Zeitschrift, die Frage nach dem Muster meiner Fußspuren, wenn ich wirklich auf diese Art unterwegs war.
Aus der Kneipe am Hafen schummerte erneut ein schwächlich gelbes Licht.
Viel zu weit, dachte ich, bin ich jetzt schon auf der Promenade gegangen, und dann bog ich ab in einen der Wege runter zur Hauptstraße, nach Hause zurück, es gab keine Alternative.
Ich fühlte mich verhöhnt, als ich an der Kreuzung zur Straße meiner Eltern einen ausgedienten Fernseher liegen sah, dem jemand zuerst die Rückwand aufgebrochen und ihn dann einfach an den Gehwegrand geworfen hatte.
Es gab einige Fußspuren im Schnee, ich schaute mich noch um, konnte aber niemanden mehr entdecken. Vielleicht war die Rückwand auch nachträglich eingetreten worden. Das Gerät lag mit dem Gesicht im Schnee. Auf den einzelnen Bauteilen, der Röhre, dem Zeilentransformator, den Kondensatoren, Mikrochips und Widerständen sammelten sich bereits einige weiße Flocken. Das Plastik war schon kalt genug geworden, dass der Schnee darauf nicht mehr schmolz, die Wärme der Hände, die das Gerät getragen hatten, des Wohnzimmers, in dem man es schließlich nicht mehr hatte sehen wollen, war verflogen. Es fiel immer mehr Schnee auf das Innenleben des Fernsehers, und irgendwann wollte ich mir das nicht mehr länger ansehen, wie diese kleinteilige, undurchschaubare Technik eingewattet wurde, bis sie dem Ort und dieser Landschaft einverleibt war und nicht mehr davon zu unterscheiden.
Im unteren Flur brannte Licht, als ich zu Hause ankam. Das Wohnzimmer war dunkel und unbeheizt, wie erwartet. Ich war mir nicht sicher, ob sich daraus jetzt eine Nachricht an mich ablesen ließe, überlegte eine Weile, es fiel mir aber nichts dazu ein. Aus dem oberen Stock war nichts zu hören. Entweder hatte Richard
gehört, dass ich gekommen war und verhielt sich extra leise, um die gespenstische Stille im Haus voll gegen mich aufzufahren, oder er war eingeschlafen, weggegangen, das brennende Flurlicht,
Weitere Kostenlose Bücher