Das kalte Jahr: Roman (German Edition)
einen Sitzplatz, und als alles vorbei war, ging ich mit den ersten nach draußen, wartete aber so lange vor der Kapelle, bis alle Kinder in ihren Jacken, alle Geschwister und Eltern herausgekommen waren, in ihre Autos gestiegen und davongefahren.
Abb. 22
Abb. 23
In einem meiner kurzen Briefe an Richard, den er nie gelesen hat und der wohl im Ofen gelandet ist am Ende, habe ich ihm von einem Anwesen auf dem Land, auf einem Hügel in einem Bundesstaat von Amerika erzählt, das von Frank Lloyd Wright, der ein aufmerksamer Schüler von Louis Sullivan gewesen war, als der noch mit Dankmar Adler sein Architekturbüro in Chicago betrieben hatte, im Jahr 1911 für sich, vor allem aber für seine Frau Mamah errichtet wurde, die dort gemeinsam mit ihm und ihren beiden Kindern, ein paar Angestellten und Landschaftsgärtnern, noch einmal etwas Neues beginnen wollte in ihrem Leben.
Aus einem ungeklärten Motiv heraus verschloss der Hausangestellte Julian Carlton, mittags an einem sehr heißen Sommertag im August 1914, die Türen des Speisesaals, in dem Mamah Borthwick, ihre beiden Kinder John und Martha, der Vorarbeiter Thomas Brunker, der Gärtner David Lindblom, der Zimmermeister William Weston, sein Sohn Ernest Weston, der Bauzeichner Herb Fritz und der Gestalter Emil Brodelle am Tisch saßen über ihrem Mittagessen. Er verschüttete Benzin im Haus, legte ein Feuer und wartete, mit einer Axt vor dem Fenster, auf Versuche der Flucht.
Frank Lloyd Wright selbst war an diesem Tag in Chicago zur Einweihung eines von ihm gebauten Kultur- und Unterhaltungszentrums eingeladen und kam erst spät nachts, nachdem die Feuerwehr das heruntergebrannte Haus bereits gelöscht und man Julian Carlton nach langer Suche versteckt im großen Zentralofen des Gebäudes gefunden und der Polizei übergeben hatte, zu Hause an und fand vom Vorhaben des Neubeginns nur noch ein paar Steine, verkohlte Reste und die Abwesenheit der Menschen, für die er das Haus geplant und entworfen hatte.
Warum ich dir das erzähle, erzählte ich Richard in meinem unsinnigen Schreiben, hat einen Grund. Frank Lloyd Wright hat sich nämlich nach dem Brand, dem Sterben und nachdem auch Julian Carlton im Gefängnis aus freien Stücken verhungert war, dazu entschlossen, das Haus auf dem Hügel wiederaufzubauen und zwar genauso, wie es da vorher gestanden hatte. Es gab wieder ein großes Esszimmer mit Fensterläden, von dem aus man den Hügel hinab ins gleichgültige Tal schauen konnte, es gab einen großen Zentralofen, von dem aus das Haus im Winter beheizt werden konnte, es gab Angestellte und Gärtner, und es gab einige Jahre später auch wieder eine Frau, mit der gemeinsam Wright den Entschluss fasste, etwas Neues, ein Anfang, der Beginn einer Veränderung zu sein im Leben des jeweils anderen.
Was ich Richard nicht mehr in diesen Brief geschrieben habe, obwohl ich mir ja schon dachte, dass er ihn nicht lesen würde und ich also auch gar keine Rücksicht hätte nehmen müssen, ist, dass das wiedererrichtete Haus auf dem Hügel nach einem Blitzeinschlag im April 1925 ein zweites Mal fast vollständig niederbrannte.
Es wurde in einer unermüdlichen Anstrengung zum Neuanfang ein drittes Mal wiederaufgebaut und hat in dieser Form auch sämtliche Bewohner überlebt, wurde zum Sitz einer Stiftung, eines Archivs für die Arbeiten Frank Lloyd Wrights und einer nach seinen Ideen und Idealen ausgerichteten Architekturschule.
Vor dem Fernseher in der Werkstatt, bei laufender Aufnahme, drücke ich die immergleiche Taste, Programm
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, durch die eingespeicherten Plätze, an den Rand des Frequenzrahmens. Am Ende springt das Gerät automatisch auf Programmplatz Eins zurück und startet von vorn. Zwischendurch rauscht es, gibt es kein anständiges Bild, nur Flackern und Schnee, die Bewohner haben davon jetzt einiges auf den Kassetten, und ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis die ersten Beschwerden eingehen. Ich kümmere mich nicht mehr um schöne Übergänge, versuche nicht mehr eine servierende Bewegung mit einer empfangenden zusammenzuschneiden oder einen Langlauf-Startschuss mit dem reflexhaften Zuhalten der Eintrittswunde in einer Soldatenbrust. Wenn ein Hund bellt, können daraufhin durchaus stehende Ovationen ausbrechen, es kann aber auch einfach ein dicker schwarzer Balken die Zeilen der Bildröhre entlangwandern, von unten nach oben, der übergeht in ein buntes Flickern, Fragmente einer Bahnreise in Bildern, in einen Tanzwettkampf, elektronische Volksmusik auf
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