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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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meinem tauben Verstand. Ich glaubte, es sei das Herz dieser riesenhaften Konstruktion. Und ihre größte Gefahr.
    Hin und wieder brachte ich die Augen auf und sah die Möbel meiner Eltern. Dann wieder sah ich Luken im Fußboden, an deren Rändern Menschen knieten, die mit kraftvoll vorgreifenden Bewegungen endlos lange Taue zu sich herauf zogen.
    Einmal sah ich neben der Tür zum Hausflur einen Mann stehen, der mit beiden Armen bis über die Ellbogen in einem schließmuskelartigen, schleimig glitschigen Loch in der Wohnzimmerwand versunken war und dort drinnen etwas fest umschlossen hielt, was auf die Welt gebracht werden musste.
    Ich schloss meine Augen und ich sah wie ein Staudamm vorsätzlich gesprengt wurde, wie aus einem Tal das Wasser ablief, bis jahrzehntelang verschluckte Dörfer zurückkamen an die Oberfläche, die Dächer mit Schlick und Wasserpflanzen behangen, Algen und Wasserschnecken an den Fenstern, ein von Muscheln überzogener Kirchturm. Die nassen Straßen wurden aufgebrochen und neu asphaltiert, eine Weile standen die Menschen andächtig vor den alten Bauwerken, bis irgendwo jemand in hektischem Übersprung ein Fenster einschlug, dann riss man alles ab und errichtete neue Städte auf dem langsam an der Luft vertrocknenden Boden. Die Landschaft musste umgegraben und eine Weile künstlich bewässert werden, bevor wieder Agrarwirtschaft betrieben werden konnte. Lastwagenkolonnen, mit Käfigen und Volieren beladen, rollten ins Tal, Tiere wurden ausgesetzt, die nachts unruhig wurden, wir spürten alle einen großen Druck auf den Ohren und auf der Brust, es wurde wenig gesprochen, die Luft war voll von der Erinnerung an den tiefen See und die Fische und wenn einer den Mund aufmachte, glaubte er, es schwappe ihm hinein.
    Dass ich mich nach dieser endlos scheinenden Zeit langsam wieder auf dem Weg an die Oberfläche befand, bemerkte ich, als ich begann, mir planende Gedanken zu machen, die konkrete Gegenstände betrafen. Ich dachte darüber nach, in den oberen Stock, ins Bett meiner Eltern umzusiedeln, verwarf diesen Umzug aber als unmöglich, weil ich dafür Hilfe gebraucht hätte, eine Stütze. Das Logische und Rationale an diesem Gedanken fiel mir auf und ich freute mich darüber.
    Etwas später folgte der erste Gang auf wackligen Beinen von der Couch bis zur Toilette im Erdgeschoss, der mich sehr viel Kraft kostete und der die Treppe, während ich mich langsam an ihr vorbeitastete, als absolut unüberwindbar erscheinen ließ.
    Ich war wieder wach genug um zu bemerken, wenn Richard nach unten kam, um sich etwas aus der Küche zu holen oder aus dem Haus zu gehen. Ich sprach ihn nicht an, genoss es aber sehr, wenn er in der Nähe war. Hin und wieder hat er über die Rückenlehne der Couch gelinst, und ich habe mich schlafend gestellt. Nach einer Weile ließ er dann täglich etwas Essen für mich in der Küche zurück, das ich mir abholen konnte, wenn er wieder nach oben in sein Zimmer verschwunden war. Ich glaube, dass er in dieser Zeit vielleicht doch etwas besorgt gewesen ist, auch wenn er es sich nicht anmerken lassen wollte.
    Ich begann, mit meinen Augen die Wohnzimmerdecke abzuwandern und mich zu langweilen. Die Kraft kam zurück in den Körper, auch wenn alle Muskeln noch verspannt und verkatert waren von der verkrampften Haltung und dem langen Liegen. Ich konnte bestimmt erwarten, beim Blick aus dem Fenster unseren Garten zu sehen, und in der Nacht schlief ich nah an der Oberfläche, wurde häufig wach und konnte mich schauend versichern, wo ich war.
    Bald machte ich mir wieder selbst mein Essen und ließ für Richard Portionen übrig, er aß manchmal am Wohnzimmertisch, wir sprachen noch immer nicht, aber es war wieder etwas von dem stummen Einverständnis in unseren Alltag zurückgekehrt.
    Als ich weit genug zu Kräften gekommen war, um einen kleinen Spaziergang zu machen, bis zum Ende der Straße und wieder zurück, als ich meine Stiefel langsam schnürte und mich dick einpackte in warme Pullover, Mantel, Mütze, kam Richard zu mir in den Hausflur und zog sich ebenfalls die Stiefel an, seine Jacke, Handschuhe, ging langsam voran zur Haustür und schaute sich immer wieder nach mir um.
    Ich trat auf die Straße und in die weiße Helligkeit des Tages, die Luft war klirrend kalt, und sofort zog sich alles in mir zusammen, der Körper erinnerte sich gut an das lange Laufen, das Frieren und die Taubheit.
    Ich schaute mich um, in die Gärten, die Nachbarhäuser standen sämtlich an ihrem Platz. Zuerst

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