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Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Das kalte Jahr: Roman (German Edition)

Titel: Das kalte Jahr: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Ehrlich
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Impuls heraus, dagegen vielleicht doch noch etwas zu unternehmen, bei der Durchsicht der Aufnahmen später vielleicht doch die kleinen Veränderungen, die Abweichungen und Besonderheiten der einzelnen Tage mit dem angestrengt suchenden Auge oder unter einem Vergrößerungsglas zu erkennen, fing ich in dieser Zeit auch wieder an, meinen Fotoapparat an der Schulter durch den Ort zu tragen. Ich machte Aufnahmen von den Kreuzungen und den Vorgärten, den Häusern und dem Strand, fotografierte den Laden und im Laden die Geräte, wenn Herr Letterau, der damit bestimmt nicht einverstanden gewesen wäre, im Außendienst unterwegs war. Ich sammelte die Rollen in einer Keksdose, die ich auf dem Wohnzimmertisch stehen ließ. Weil es im Ort kein Fachgeschäft oder Fotolabor mehr gab, muss ich damals schon daran geglaubt haben, zu einer späteren Zeit an einen anderen Ort zu kommen, wo ein Fachmann meine belichteten Filmstreifen in den nötigen Flüssigkeiten und Lösungen baden könnte, bis die Bilder darauf sich langsam aus dem grauen Schleier hervorarbeiten würden.
    Ich archivierte den Ort, allerdings nicht akribisch, nicht gründlich, ohne Ordnung oder Sorgfalt, eher beiläufig, weil ich fand, dass ihm das am ehesten entspräche.
    Ich ging durch die Straßen, ohne mich auf den vor mir auf und ab wippenden Bommel von Richards blauer Mütze konzentrieren zu müssen, auf Gefahren, die vor dieser Mütze für den Kopf und den Körper daran auftreten könnten. Mein Blick glitt durch die Straßen, und sobald er sich verfing, fotografierte ich. Ich versuchte nicht zu verstehen, was ich sah, vertagte das Verstehen auf eine andere Zeit in der Zukunft, wenn das Archiv vor mir liegen würde zur Betrachtung aus der Distanz.
    Ich ging die Hauptstraße hinunter und fotografierte in die Gärten hinein, in Wohnzimmerfenster, über die toten Hecken hinweg, die keinen ausreichenden Sichtschutz mehr boten. Die Blende hatte ich dabei immer weit offen und die Belichtungszeit so eingestellt, dass ich den Apparat gerade noch stillhalten konnte.
    An einem Nachmittag war die Straße vor der Kapelle und dem Friedhof vollkommen zugeparkt, ohne dass ich jemand zwischen den Gräbern herumgehen sah. Ein Auto stand mit laufendem Motor und leuchtenden Scheinwerfern in der zweiten Reihe, jemand saß hinter dem Steuer und wartete, mit einer ausgebreiteten Zeitung über dem Lenkrad. Ich machte ein Bild von der Person, die in die Seiten starrte ohne umzublättern, dachte mir aber in dem Moment schon, dass später wahrscheinlich nur mein Spiegelbild im Autofenster zu sehen sein würde.
    Eine Weile schaute ich mich um und lauschte angestrengt durch den Stoff meiner Mütze, bis ich aus dem Innern der Kapelle ein leises Flöten hören konnte, eine Melodie.
    Ich ging die Stufen hoch, öffnete die dicke Holztür und fand das Innere voller Menschen, Orgelmusik breitete sich aus, Kerzenlicht, eng beieinander sitzende Körper in dicken Jacken in den Bänken oder stehend an den Rändern, mit vor dem Schritt verschränkten Händen. Eine große Feierlichkeit war in der Musik, die ich in den letzten Akkorden noch mitbekam, bevor die Liturgie wiederaufgenommen wurde, man war bei der Anamnese angekommen, und vorn beim Altar saßen die Kinder der Ortsbewohner in weißen Kleidern oder schwarzen Anzügen, mit ihren aufrecht gehaltenen Taufkerzen in den Händen und schienen zu frieren und zu hoffen, dass sie bald wieder in ihre Jacken und in ihren Jacken zurück in ihre Häuser durften.
    Am Altar stand ein Pfarrer, der sagte: Tut dies zu meinem Gedächtnis, und der danach seine Arme und Hände in die Luft hob und den Kopf senkte und damit scheinbar ein Zeichen gab für zwei Messdiener, die oben in der Kanzel an einem Flaschenzug standen und einen Kronleuchter an die Decke zogen, der mit Hunderten brennender Kerzen bestückt war. Wie eine kleine Sonne ging der leuchtende Kranz über den Ortsbewohnern auf, verbreitete ein warmes Licht, ich sah die Menschen in ihren Gesangs- und Gebetsbüchern blättern, ein Junge popelte am Docht seiner Kerze herum, wieder setzte Musik ein, das Leuchten fiel auf die Mädchen in den weißen Kleidern, und ich machte ein Foto. Das Klacken des aufklappenden Spiegels in meiner Kamera ging in der Musik unter, und trotzdem schauten mich ein paar der Fotografierten plötzlich an, als hätten sie gespürt, was da gerade passiert war.
    Den Rest der Zeremonie stellte ich mich an den Rand, gut versteckt hinter den Verwandten, die zu spät gekommen waren für

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